Herztod
16.Juni 14.00
Hans Görgen, ein pensionierter Polizist, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach dem Mittagessen eine Runde spazieren zu gehen. Heute wollte er den Weg zur Johanniskapelle nehmen. Der Gärtnerpark, eine kleine Parkanlage mit altem Baumbestand, einem Kriegerdenkmal und einigen Sitzbänken, lag vor ihm. Aus dem nahen Bahnhofsviertel strandeten oft Obdachlose hier und schliefen ihren Rausch aus. Auch Hundehalter waren insbesondere morgens und abends häufig anzutreffen. Beides schadete dem Ambiente.
Von weitem sah er schon die zusammengekauerte Gestalt auf der Bank. Beim näher kommen passte die gute Kleidung und die fehlenden Utensilien: keine Plastiktüte, kein Einkaufswagen, keine leeren Flaschen, nicht zu einer Person, die ihren Rausch ausschlief. Es war eine Frau mittleren Alters.
„Hallo“ rief er leise, dann etwas lauter. Keine Reaktion. Er stieß sie vorsichtig an und merkte, dass sie tot war.
Er holte sein Handy aus der Tasche (das er zufällig dabei hatte) und wählte den Notruf.
„Bleiben sie vor Ort“ sagte der Diensthabende, ich schicke den Notarzt und einen Streifenwagen.
Ein paar Minuten später hörte er die Martinshörner.
Der Rettungssanitäter rannte mit seinem Koffer herbei, gefolgt von einer attraktiven Blonden, der Notärztin, die ebenfalls diese rot-weiße Einsatzjacke trug und weiße Hosen.
Offenbar tot stellten beide nach einer kurzen Untersuchung fest. Das EKG zeigte keine Herzaktion.
„Mindestens seit zwei Stunden“, die Totenstarre hat an den Augenlidern schon eingesetzt, die Pupillen weit und lichtstarr.
Die beiden Streifenpolizisten hatten inzwischen die Umgebung abgesucht, eine leere Medikamentenschachtel wäre z.B. ein Hinweis gewesen.
„Wir rücken wieder ab“ sagte die Ärztin ( der Notarzt kümmert sich nicht um Tote ) „Bleiben sie noch hier, die Kollegen von der Kripo müssen gleich hier sein“, sagte einer der Polizisten.
Der Kripobeamte ließ sich erst von der Notärztin berichten: „möglicherweise ein Herzinfarkt“ sagte sie und dann von den Streifenbeamten, die nichts Außergewöhnliches bemerkt hatten. Vor allem gab es keine Hinweise auf ein Fremdverschulden.
„Wir brauchen eine handfeste Todesursache“ sagte der Kripobeamte zu seinem Kollegen, „lass’ sie abholen.“
Als der Leichenwagen mit dem Transportsarg vorfuhr, waren die Beamten schon abgerückt.
Der Streifenwagen tat das dann auch.
„Wir haben einen Neuzugang, kümmerst du dich mal?“ Im Beerdigungsinstitut ist das Sache des Lehrlings. Das Gespräch über die Ausstattung und das Betreuen der Angehörigen ist dann Chefsache.
Patrick packte alle Sachen der Frau in einen dafür vorgesehenen Sack, die Wertsachen extra und protokollierte alles.
Dann wusch er die Leiche, manchmal lagen noch Kanülen an Armen, Beinen, manchmal auch am Hals und aus den Einstichstellen konnte Blut austreten. Dann zog er ihr ein Totenhemd an, legte sie in eine Wanne und schob sie in den Kühlraum. Blut hatte er keins gesehen, bis auf eine kleine Spur über der linken Brust, er dachte sich nichts dabei. Fast nichts.Dass bei einem Herzstillstand der Arzt schon mal Adrenalin direkt in die Herzkammer spritzt, hatte er schon gehört.
„Ich mache dann Feierabend“, rief er seinem Chef durch die offene Bürotüre zu.
Im Präsidium hatte der Kripobeamte gerade seinen Bericht fertig gemacht. „Wann bekommen wir das Obduktionsergebnis?“ Fragte er seinen Kollegen. „Eine Obduktion sollte erfolgen? ich dachte, sie hätte einen Herzinfarkt gehabt, der Bestatter hat sie abgeholt.“ „Trottel ich habe doch gesagt, dass wir eine handfeste Todesursache brauchen. Bring’ das in Ordnung.“
Er rief beim Bestatter an und im Gerichtsmedizinischen Institut, die Leiche wurde noch am Abend abgeholt.
Anne Dax
So hieß die Tote, war 45, als sie starb.
Sie stammte aus einem kleinen Städtchen im rheinland-pfälzischen. Dort lebten auch noch ihre Eltern und ihre Schwester. Sie hatte einen guten Kontakt zu ihrer Familie, insbesondere zu ihrer Schwester.
Der ging es zeitweise nicht gut, sie war psychisch instabil, Anne war immer in Sorge, dass sie wieder in stationäre Behandlung kommen würde.
Sie selbst hatte Biologie studiert, aber in diesem Bereich keine Anstellung bekommen, weswegen sie da und dort jobbte und über diesem Weg schließlich im Vorzimmer einer Chefetage landete, als „Direktionsassistentin“.
Ihre Stelle gefiel ihr gut, sie hatte neben dem Bürokram mit vielen interessanten Leuten zu tun und kam auch herum. Ihr Arbeitgeber, ein großer Verband, machte Lobbyarbeit und hatte guten Kontakt zu den Medien.
Sie hatte eine schöne Wohnung in einem Vorort und alles, was man so braucht. Es ging ihr gut.
Ihre feste Beziehung, in der sie sich gut aufgehoben fühlte, endete, als ihr Freund sie wegen einer anderen nach 10 Jahren Knall auf Fall verließ. Das traf sie, die 35 jährige schwer.
Die Trennung war noch gar nicht so lange her, als sie begann, sich nach einem neuen Partner um zu schauen. Sie schaltete eine Annonce in einer überregionalen Tageszeitung.
Tatsächlich lernte sie einen Arzt kennen, mit dem sie eine kurze, etwas mehr als ein halbes Jahr dauernde, intensive Beziehung hatte. Dann gab sie ihm den Laufpass.
Der Verband verlagerte seinen Sitz nach Berlin, wie viele andere Organisationen dieser Art auch.
Anne entschloss sich, nicht mit zu ziehen, auch wegen ihrer Familie. Sie zog in eine eigene Wohnung auf dem Dorf und lebte fortan sehr zurückgezogen.
Die Untersuchung
Im Institut für gerichtliche Medizin sollte am nächsten Tag stattfinden. Für Dr.Werner, den Obduzenten, war es die dritte Leiche an diesem Tag. Seit sein Chef diesen Artikel im Ärzteblatt untergebracht hatte, der auf die hohe Dunkelziffer hinwies von nicht natürlichen Todesursachen,
waren deutlich mehr Untersuchungen durchzuführen, etwas spektakuläres, etwa einen Mord, hatte er aber bisher nicht beweisen können.
Nachdem der Prosekturgehilfe die Leiche auf den Obduktionstisch gelegt hatte, begann er mit der äußeren Besichtigung wobei er mit monotoner Stimme alles was er sah in sein Diktiergerät sprach.
Nach der Eröffnung der Brusthöhle fiel ihm sofort der prall gespannte und bläulich schimmernde Herzbeutel auf. Die Frau war an einer Herzbeuteltamponade gestorben. Mit der Kamera wurde jetzt zusätzlich dokumentiert. Nach Eröffnung des Herzbeutels entleerte sich reichlich, teils geronnenes Blut, das Herz selbst war zusammengepresst.. Eine Ursache für diese Blutung sah man auf Anhieb nicht. Um ganz sicher eine Verletzung auszuschließen, injizierte er Wasser in die Herzkammern und tatsächlich entdeckte er ein Leck in der Herzwand mit der Lupe meinte er dort auch eine kleine Einblutung zu sehen. Wieder wurde alles fotografiert und dann ein Präparat für die histologische Untersuchung fertig gemacht. Bei diesem Befund musste sich auch ein Stichkanal in der Brustwand finden. Er sah sich diese noch einmal gezielt an und fand den Einstich, der sich sondieren ließ.
Er ärgerte sich, weil er diesen nicht gleich bei der äußeren Besichtigung entdeckt hatte, das sollte einem älteren Assistenten, der kurz vor der Habilitation stand, nicht mehr passieren.
Dass die Leiche gewaschen war und damit äußere Blutspuren nicht erkennbar waren und die Tatsache, dass sich der sehr kleine Einstich in einem Muttermal verborgen hatte, war ihm ein schwacher Trost.
Auch dieser Befund wurde für die feingewebliche Untersuchung präpariert. Sicherheitshalber nahm er noch ein Stückchen Gewebe zur Aufarbeitung für die DNA Analyse Datei.
Alle anderen Obduktionsbefunde waren dann ohne Besonderheiten
Der Ermittler
war Kriminalhauptkommissar Eichinger. Er fand die ganze Akte in seinem Posteingang. Da es sich offenbar um eine Gewalttat handelte, war er für die Ermittlung zuständig.
Der Auffindungsort war also nicht der Tatort, an einer Herzbeuteltamponade stirbt man ja auch mehr oder minder langsam und kann sich noch fortbewegen. Zeugen oder ein Tatwerkzeug gab es nicht.
Der Hergang war völlig unklar. Bringt man sich einen Stich ins Herz selbst bei? Er wusste, dass es die abenteuerlichsten Formen der Selbsttötung gibt, aber hier fehlte jeder Hinweis, kein Abschiedsbrief und den „Tatort“ verlässt man in so einer Situation eigentlich nicht. Sehr unwahrscheinlich. War es ein Unfall gewesen? Hatte hier ein Geschoss getroffen, ein Pfeil, oder eine Art Speer? Dann ruft man sehr wahrscheinlich um Hilfe. Gab es einen Täter? Dann würde man Spuren eines Kampfes erwarten und auch in dieser Situation ruft man um Hilfe.
Er hatte bisher gar nichts in der Hand.
Als erstes ließ er den ganzen Park noch einmal von einem Kommando der Bereitschaftspolizei absuchen, die auch Metalldedektoren benutzte. Außer üblichem Müll wurde nichts gefunden.
Die Kleidung der Toten wurde kriminaltechnisch untersucht. Die Bluse hatte einen Blutfleck an der Einstichstelle, wo sich auch ein kleines, triangelförmiges Loch im Stoff fand. Der fragliche Gegenstand konnte nur wenige Millimeter Durchmesser gehabt haben und war wohl rund oder dreieckig im Querschnitt gewesen. Ein Messer konnte es nicht gewesen sein.
Die restliche Kleidung, insbesondere der Mantel zeigte keinerlei Spuren, auch nichts, was sich für eine gentechnische Analyse eignete.
In der Geldbörse fanden sich zwei Fahrscheine der Stadtwerke. Der eine war am Hauptbahnhof gestempelt worden, der andere an einer Haltestelle in der Nähe der Kliniken. Das könnte ein Hinweis sein.
Das Handy wurde im Labor überprüft: es war am Vortag zuletzt benutzt worden, die Nummer war die ihrer Schwester.
Inzwischen hatte dieser die örtliche Polizei die Todesnachricht überbracht. Sie war erschüttert, behielt aber die Fassung. Eichinger rief sie an und kündigte seinen Besuch an, er wollte sie nicht ins Präsidium zitieren.
Ihre Schwester hatte als einziges Problem und das schon seit Wochen, starke Schmerzen im rechten Arm, sagte sie. Ihr Arzt hätte ihr starke Schmerzmittel verschrieben, die aber nichts geholfen hätten, ihr sei nur übel davon geworden. Sie wolle sich deswegen einmal in der Uni-Klinik untersuchen lassen.
Der Kommissar gab den Auftrag, herauszufinden, wo und wann Anne Dax Patientin gewesen war. Die Patientenaufnahme meldete Fehlanzeige, allerdings wurden dort nur alle stationären Aufnahmen erfasst. Also mussten alle existierenden Ambulanzen angefragt werden. In erster Linie in Frage kam die Chirurgie oder Orthopädie, auch die Internisten, bei Nervenschmerzen die Neurologie oder Neurochirurgie.
Relativ schnell stellte sich heraus, dass sie in der Neurochirurgie gewesen war.
Eichinger versuchte alles Aufsehen zu vermeiden, als er sich am Tresen der Aufnahme auswies.
Ja, sagte die Dame, die Patientin sei von ihrem Ambulanzarzt Dr. Wächter untersucht und auch behandelt worden.
Als der Doktor aus seinem Zimmer kam, sprach er ihn an.
Der Doktor bat ihn herein, sie setzten sich, der begleitende Kollege von Eichinger blieb stehen.
Frau Dax sei dreimal da gewesen, sagte der Doktor, er habe sie untersucht und, weil sie keine ausreichende Diagnostik mitbrachte (was eigentlich vorgeschrieben ist) habe er ein CT der Halswirbelsäule veranlasst, wo man auf den Bildern erkennen konnte, dass ein Loch auf der rechten Seite, wo eine Nervenwuzel austritt, durch Knochensporne eingeengt ist, was er für die Schmerzursache gehalten habe. Eine Operation macht man bei dieser Diagnose nur, wenn eine Nervenfunktionsstörung vorliegt, oder die Schmerzen, die ja sehr quälend sein können, nicht auf eine Behandlung ansprechen.
Man habe sich neben einer modifizierten Medikamenteneinnahme auf eine Behandlung mit Injektionen geeinigt, was man therapeutische Lokalanästhesie nennen würde. Außerdem hätte er ihr eine weiche Halsstütze verordnet, zur Ruhigstellung. Am fraglichen Tag habe sie eine Spritze bekommen, die er im Nackenbereich gesetzt hätte. Man mache auch Injektionen, die man Stellatumblockade nennt, davon hätte sie am Anfang eine gehabt. Da diese Art Injektion, die man von vorne macht, wobei das Gefäß-Nervenbündel zur Seite gehalten wird, nicht ganz ungefährlich ist, habe er das nur einmal gemacht, zumal die Patientin sagte, dass ihr die Injektion von hinten besser geholfen hätte. In drei Tagen war sie wiederbestellt.
Der Doktor machte auf ihn einen ruhigen, nicht unsympathischen Eindruck. Ihm fiel nur auf, dass der Arzt, als er den Grund seiner Ermittlung nannte, völlig unbeteiligt zu bleiben schien.
Am nächsten Tag rief er noch einmal die Schwester der Toten an und fragte, ob ihr zwischenzeitlich noch etwas eingefallen wäre. Sie verneinte und fragte ihrerseits, ob er über die Behandlung etwas herausgefunden hätte. Er sagte, dass Anne in der Neurochirurgie gewesen wäre und dort Spritzen bekommen hätte, Dr. Wächter wäre ihr behandelnder Arzt gewesen.
Alexandra schwieg. „Hallo, sind sie noch dran?“ Nach einer längeren Pause fragte Alexandra:“Wie hieß der Arzt?“ „Wächter, Dr. Helmut Wächter, er ist Oberarzt.“ „Meine Schwester kannte einen Dr. Wächter in der Neurochirurgie, es ist zirka 10 Jahre her, sie waren sogar einige Zeit zusammen. Dass sie sich von ihm getrennt hat, habe ich nicht verstanden. Ich fand ihn nett. Wegen meiner Probleme damals, hat er mir ein Buch geliehen, was mir sehr geholfen hat.“
Eichinger fand es sehr merkwürdig, dass der Arzt kein Wort darüber gesagt hatte, dass er seine Patientin gekannt hatte, privat und eng.
Dr. Wächter
war schon sehr lange an der Klinik, vielleicht zu lange. Aber jetzt, wenige Jahre vor seiner Pensionierung, kam für ihn nicht in Frage, noch einmal etwas Neues zu beginnen.
Als der Kripobeamte ihm gesagt hatte, dass Anne Dax tot sei, hatte er einen riesigen Schreck bekommen. Etwas Ähnliches war ihm schon einmal passiert. Ein Patient war ihm im Rahmen einer Spritzenbehandlung praktisch unter den Händen verstorben. Selbstverständlich waren alle intensivmedizinischen Maßnahmen durchgeführt worden, das progrediente Kreislauf- und Organversagen konnte jedoch nicht gestoppt werden.
Er musste damals der Ehefrau diese Mitteilung machen. Es war entsetzlich. Die Krankenakte wurde beschlagnahmt, die Leiche gerichtsmedizinisch obduziert. Ein Behandlungsfehler konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
Der Stichkanal lief nicht gerade zum Zielpunkt, etwas Entscheidendes war aber nicht getroffen worden. Das Medikament, ein örtliches Betäubungsmittel, konnte in der angewandten Dosierung keinen Herzstillstand erklären, selbst wenn es direkt in die Blutbahn gespritzt worden wäre.
Die Todesursache blieb letztlich unklar. Auch deswegen verfolgte ihn die Ehefrau weiter und bezichtigte ihn unverhohlen des Mordes.
Er selbst vermutete, dass dieser Patient eine verzögerte anaphylaktische Reaktion gehabt hatte.
Wenn ihm jetzt etwas Ähnliches vorzuwerfen wäre, würde dass die sofortige fristlose Kündigung für ihn bedeuten. Immerhin hatte er in der Vergangenheit schon zwei Abmahnungen hinnehmen müssen.
Mehrfach hatten sich Patienten und auch ärztliche Kollegen über sein Verhalten beschwert.
Er diente jetzt unter dem 3.Chef, die zwei Vorgänger waren jeweils pensioniert worden. Der neue Direktor war zwei Jahre jünger als er. Nach anfänglicher Toleranz, fühlte er, Wächter, sich zunehmend ausgegrenzt. Offen wurde von „Altlast“ gesprochen. Im Kollegium wurde er vom Chef als „faule Sau“ tituliert.
Je nach Stimmung wurde er gefragt, ob er nicht vorzeitig in Pension gehen wolle, einmal wurde er im Rahmen eines Wutanfalles auf dem Flur „gefeuert“.
Der Stand an der Klinik war für ihn immer schwieriger geworden. Es bildeten sich auch Lager, die einen hielten ihn für einen netten Kerl mit Hang zum Zynismus, die Minderzahl einschließlich Chef für einen möglicherweise gefährlichen Psychopathen.
Er hatte deswegen beschlossen, sein an sich sehr offenes Wesen möglichst zu bremsen, sowohl gegenüber Vorgesetzten, wie Patienten, wie nach außen z.B. gegenüber der Kripo.
Wieder im Büro grübelte Eichinger weiter über diesen Fall.
Der Arzt hatte ihm etwas verheimlicht. Das Opfer war, wenn es auch schon länger her war, mit ihm intim gewesen. War hier eine Beziehungstat der Beweggrund? Aber wie sollte der Doktor das gemacht haben? Immerhin erfordert ein gezielter Stich ins Herz einige anatomische Kenntnisse, die sollte man als Arzt haben.
Er legte die Akte zunächst einmal auf den Stapel „unerledigt“ und griff sich die nächste.
Als sein Kollege zur Tür hereinschaute, bat er ihn, ihm eine Tüte aus der Asservatenkammer mitzubringen. Er gab ihm die Registriernummer.
Die Tüte, die einige Gegenstände zu einem ebenfalls bisher ungeklärten Fall enthielt, lag auf der untersten Ebene des Regals. POM Heinz griff sie und sah dabei zufällig einen Zipfel einer Kunststofftüte hinter dem Regal auf dem Boden. Vermutlich war sie heruntergefallen.
Er zog sie heraus. Der Inhalt sah auf den ersten Blick aus wie so eine Art Korkenzieher.
Merkwürdig war, dass die Registrierung fehlte. Welchem Fall sollte man die Tüte zuordnen?
Er nahm sie auch mit.
Er gab Eichinger das Gewünschte und erzählte von seinem Fund. Der war ganz woanders und sagte nur halblaut:“kommt vor“.
Heinz sah sich den Gegenstand in der Tüte genauer an. In der Asservatenkammer der Mordkommission landen meist Gegenstände, die bei Straftaten eine Rolle gespielt haben zum Nachteil der Opfer. Vielleicht war das auch hier der Fall, dann handelte es sich um ein wichtiges Beweismittel. Es sollte zugeordnet werden. In der Mittagspause fragte er seinen Kollegen vom Kriminaltechnischen Dienst, den er noch von der Polizeischule her kannte, ob er nicht einmal prüfen könne, ob sich an dem Gegenstand DNA befinde, dann könne man über diese Spur eventuell zuordnen.
Kevin
War kürzlich 14 geworden. Er war stinksauer. Seine Lehrerin hatte ihm gesagt, dass seine Versetzung gefährdet sei, seine Mutter würde einen entsprechenden Brief kriegen. Das wäre dann die zweite „Ehrenrunde“. Die Ehe seiner Eltern war auseinander gegangen als er 4 war. Seinen Vater kannte er so gut wie nicht. Selten, ein- zweimal im Jahr, meldete er sich, z.B. zum Geburtstag. Seine Mutter war „allein erziehend“ und er der einzige Sohn. Für seine Mutter war er das Ein- und Alles. Die ständige Bevormundung störte ihn sehr. Auf die Schule hatte er überhaupt keinen Bock. Allein die Vorstellung etwas machen zu müssen, sozusagen auf Termin, war ihm ein Gräuel. Was das für die Zukunft bedeutet, war ihm jetzt egal. Er wollte eigentlich nur älter werden und selbständiger. Sein zuhause waren seine Kumpels, die waren schon älter, hatten auch Geld, da fühlte er sich wohl. Erst recht, wenn alle eine Bierflasche in der Hand hatten. Er durfte ja keins kaufen, aber die älteren hatten kein Problem. Klar, der Eine oder Andere kiffte oder hatte schon mal was eingeworfen. Vom Rudi wusste er, der war „vorbestraft“. Er selbst war „clean“.
Den Rest des Vormittages schwänzte er und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof.
Vielleicht war einer seiner Kumpels da.
Er trug jetzt nicht mehr diese Schlabberjeans, wo der Schritt in Kniehöhe ist und die Kette an der Seite baumelt, zum Geburtstag hatte er diese Militärhose bekommen mit diesem grau-beigen Tarnmuster und den vielen Taschen. Die trug er jetzt. Obenrum hatte er seinen „style“ nicht geändert, Tom Kaulitz fand er geil.
Bei seinen Jungs musste man aufpassen, das wusste er. Wenn man ihnen, nach ihrer Meinung dumm kam, gab es welche, die dann brutal wurden. Schnell hatte man sich Schläge eingefangen und dabei hatten die auch mal was in der Hand: einen Schläger, einen Schlagring oder eine Flasche. Um im Falle des Falles gerüstet zu sein hatte er sich „bewaffnet“. Er würde es denen dann schon zeigen. Seine „Waffe“ trug er stets bei sich: in der rechten, großen Oberschenkeltasche. Wenn er unterwegs war, hatte er meistens die Hand in der Tasche und das Ding umklammert. Er fühlte sich dann stark, unverletzbar und keiner konnte es ihm ansehen.
Der Bus war sehr voll. Er hatte zu spät gesehen, dass zwei Kontrolleure eingestiegen waren. Er merkte, wie sich sein Puls verstärkte. Scheinbar gelangweilt hielt er seinen Blick auf den Monitor gerichtet, der die Haltestellen anzeigte, vielleicht schafft er es, bei der nächsten noch raus zu kommen.
Der Bus hielt, die Tür ging zischend auf, Kevin fing an zu toben, stieß die Leute zur Seite, verpasste der Frau an der Tür einen kräftigen Fauststoß und war draußen. Er war diesen Arschlöchern entkommen, glaubte er. Er stecke seine Hand wieder in die Tasche.
Ein paar Tage später stellte ihn seine Mutter zur Rede, sie habe da einen Brief bekommen. Ach du Scheiße, der blaue Brief, dachte er. Es war aber eine Vorladung aufs Polizeirevier. Er hatte bei der Aktion seinen Schulausweis verloren und die Leute von der Stadt hatten ihn angezeigt.
Auf dem Revier wartete er auf seine „Anhörung“. Plötzlich gab es Trubel auf dem Flur, ein paar Jugendliche lieferten sich eine Rangelei mit den Beamten. Einer rief. „Kevin, was machst du denn hier?“ es waren seine Kumpels. Die Beamten holten Verstärkung und stellten allesamt an die Wand und filzten sie einschließlich Kevin, denn der gehörte ja dazu, wie man sah.
Bei Kevin fanden sie das Ding in der Tasche und konfiszierten es. Bei der Vernehmung stellte sich dann heraus, dass es bei Kevin um etwas anderes ging. Sie ließen ihn schließlich laufen.
Polizeiobermeister Heinz hatte gerade in seine Wurstsemmel gebissen, als das Telefon zu dudeln anfing. Er ließ es läuten und brachte erstmal seinen Bissen hinunter. Schließlich spricht man nicht mit vollem Mund. Am anderen Ende war sein Kollege vom Labor. „Stell dir vor, an der Spitze von dem unbekannten Asservat, das du mir gegeben hast, war ein winziges Stück menschlichen Gewebes, unter der Lupe sah man auch, dass die Spitze umgebogen war, wie ein Angelhaken.“ „Und?“, „wir konnten eine DNA Analyse machen, im Moment läuft noch der Abgleich mit den Daten auf dem Server.“
Wenig später kam die Meldung: die DNA Analyse hatte ergeben, dass die Spur von Anna Dax stammt, man hatte das Tatwerkzeug gefunden.
Die Nachricht wurde sofort Eichinger übermittelt.
Der ließ sich alle neuen Informationen geben, den Laborbericht und die Quelle der DNA-Spur.
Ohne Zweifel passte das Ding zu dem gesuchten Tatwerkzeug: an einem Holzgriff, wie man ihn bei älteren Korkenziehern findet, war statt des Gewindes ein mehrere Zentimeter langer Dorn montiert, der noch dazu mit einer Feile bearbeitet worden war, er muss mal sehr spitz gewesen sein. Mit einer Ahle hat man die Kraft Leder zu durchbohren, wie es ja der Schuster macht.
Das passte gut zum Verletzungsmuster.
Er ließ nach Fingerabdrücken auf dem Griff suchen: es fanden sich einige brauchbare.
Da sucht man nach der Nadel im Heuhaufen, dachte er, dabei liegt sie einem vor den Füssen, man braucht sie nur aufzuheben. In wenigen Jahren würde er in Pension gehen, vielleicht sollte er dann ein Buch über seine Erlebnisse schreiben, diese Geschichte sollte ein Kapitel abgeben.
Mindestens ein Kollege musste das Ding in der Hand gehabt haben, sonst wäre es nicht ins Haus gelangt und erst recht nicht bei der Asservaten. Er wird sie alle befragen müssen, am besten im Rahmen der täglichen Einsatzbesprechungen. Er kalkulierte dafür drei Tage, denn es waren nie alle zu gleich da: einige hatten dienstfrei, einige waren im Außendienst, einige im Urlaub, ein paar krankgeschrieben.
Bei der ersten Einsatzbesprechung zeigte er den Gegenstand und fragte alle, wer ihn schon einmal gesehen oder in der Hand gehabt habe. Schweigen, auch in den nächsten beiden Besprechungen. Bei der vierten, einige kannten den Auftritt jetzt schon, hatte er das Gefühl, dass einige sich über ihn lustig machten: der Eichinger mit seinem Ding.
Er verlor die Geduld: „Verdammt noch mal, ich brauche eine Antwort, wer hat das Ding in der Hand gehabt?“ brüllte er in den Raum.
Ein junger Beamter in der hintersten Reihe fragte vorsichtig. „darf ich mir das mal näher ansehen?“
„Kommen Sie nach vorne!“ raunzte der Kommissar. „Ich glaube, das habe ich vor ein paar Tagen einem Jungen abgenommen.“ „Was heißt ich glaube, haben Sie, oder haben Sie nicht, dass weiß man doch.“ Eichinger mochte kein Herumgerede
„Da war eine Gruppe Jugendlicher, einer hatte dieses Teil in der Tasche, da man damit Unsinn machen kann, habe ich es ihm abgenommen. Wie es zu den Asservaten kam, weiß ich nicht.“ Also noch einer, der es in der Hand gehabt haben musste, dachte Eichinger und sah ihn dabei prüfend an.
„Wie heißt der Knabe, Name, Adresse!“ „ Das kann ich im Moment nicht sagen, er war wohl der jüngste in der Gruppe, außerdem war er nicht wegen einer Tätlichkeit da, sondern wegen einer Anzeige, weil er schwarzgefahren war. Wir haben ihn dann gehen lassen.“
Möglicherweise gibt es deswegen bei uns darüber keine Akte und auch keine Registriernummer, schloss Eichinger.
„Ich möchte bis 10.00 h die Daten des Jungen haben, machen Sie sich an die Arbeit.“ Der Beamte gehorchte.
Er ging ins Betrugsdezernat und erinnerte auf dem Weg, dass der Typ Kevin geheißen hatte.
Der Kollege, der Zugang zu den Datensätzen hatte, suchte unter diesem Namen, eine lange Liste erschien auf dem Monitor, unbrauchbar. Dem Polizisten fiel ein, dass das irgendwann in der Monatsmitte gewesen sein musste. Die Suche wurde auf das Datum vom 14. bis 16.06. eingeschränkt.
Unter dem 16. fanden sich drei Einträge, beim lesen fiel ihm auch wieder der Nachname des Gesuchten ein: Gott sei Dank. Er ließ sich das Datenblatt Kevin ausdrucken.
Ich werde diesem Kevin und seiner Familie einen Besuch abstatten, heute Nachmittag und unangemeldet, beschloss Eichinger.
Kevins Mutter öffnete die Tür, Eichinger wies sich aus und stellte seinen Kollegen Heinz vor.
Kevin war nicht zuhause. „Er kommt fast nur noch zum Schlafen, ich weiß nicht, wo er jetzt ist.“ sagte sie. „Wir müssen zusammen etwas klären. Kommen Sie morgen Nachmittag ins Präsidium, hier ist meine Karte. Wenn das nicht geht, rufen Sie mich auf jeden Fall an.“
Dass er Kevins Fingerabdrücke nehmen wollte, sagte er nicht.
Die Vernehmung
Am nächsten Tag erschienen beide im Präsidium. „Warten Sie bitte hier, ich spreche mit Kevin erst einmal alleine“.
„Du bist also der Kevin?“, „Ja“, „dann komm’ mal bitte mit.“
Im Verhörraum knallte Eichinger die Akte auf den Tisch, beide setzten sich.
„Gehört das dir?“ fragte er und zeigte Kevin das Tatwerkzeug. „Ja, das ist meine Waffe.“ Kevin ahnte nichts Böses. „Wo hast du die her?“ „Die hab ich mir gebastelt, damit ich mich gegen stärkere verteidigen kann.“
Der Kommissar holte ein Foto aus der Akte, er hatte es von Anne Dax’ Schwester zur Verfügung gestellt bekommen und zeigte sie im Portrait.
„Kennst du diese Frau?“ „Nö“
„Wo warst du am 16. Juni, das war ein Mittwoch, vormittags?“
„Weiß ich nicht mehr.“
„Verdammt noch mal, denk’ nach, ich weiß mehr von dir, als du ahnst und keine faulen Ausreden.“
Eichinger wurde laut.
Mittwochs hatte er, neben Mathe und Sport, Deutsch bei der Klassenlehrerin. War das nicht der Tag, als sie den blauen Brief ankündigte?
„In der Schule“
Die Tat, um die es hier ging, war zwischen 10 und 11 Uhr am Vormittag passiert.
„Gut, ich werde mich in der Schule erkundigen.“
Scheiße, dachte Kevin, er hatte die zweite Vormittagshälfte geschwänzt. Er merkte, dass er ganz schön in der Bredouille war.
„Ich habe ein paar Stunden geschwänzt.“
„Na also, weiter, was hast du gemacht?“
„Ich bin mit dem Bus zum Bahnhof gefahren, wollte meine Kumpels treffen, das war die Fahrt, wo mich beinahe die Kontrolleure erwischt hätten.“
„Hast du die Frau im Bus gesehen?“
„Nein, da waren viele Leute.“
„Die Frau hatte einen beigen Regenmantel an und trug eine rot-braun gemusterte Bluse.“
Kevin zuckte die Schultern. Als er aus dem Bus stürzte, hatte er ein paar Leute zur Seite gestoßen und einer Frau an der Tür eine vor den Latz geknallt, die hatte einen Mantel angehabt, sollte er das sagen?
„Bist du mit deiner „Waffe“ auf jemanden losgegangen?“
„Nein, ich wollte nur raus aus dem Bus.“
„Aber du hattest doch das Ding in der Hand?“
Eichinger klopfte auf den Busch.
Kevin hatte meistens das Ding umklammert, egal ob er sich bedroht fühlte, oder nicht. Das konnte der Kommissar unmöglich wissen.
„Vielleicht hast du jemanden unabsichtlich damit verletzt?“
Eichinger bohrte nach.
„Kann sein, auf jeden Fall unabsichtlich.“
Das Geständnis, für Eichinger war der Fall gelöst.
Kevin wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Jugendstrafe verurteilt.
Seine „Kumpels“, derentwegen er sich „bewaffnet“ hatte, blieben ungeschoren.
Sie hatten ja nichts mit dem Fall zu tun.
Hans Görgen, ein pensionierter Polizist, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach dem Mittagessen eine Runde spazieren zu gehen. Heute wollte er den Weg zur Johanniskapelle nehmen. Der Gärtnerpark, eine kleine Parkanlage mit altem Baumbestand, einem Kriegerdenkmal und einigen Sitzbänken, lag vor ihm. Aus dem nahen Bahnhofsviertel strandeten oft Obdachlose hier und schliefen ihren Rausch aus. Auch Hundehalter waren insbesondere morgens und abends häufig anzutreffen. Beides schadete dem Ambiente.
Von weitem sah er schon die zusammengekauerte Gestalt auf der Bank. Beim näher kommen passte die gute Kleidung und die fehlenden Utensilien: keine Plastiktüte, kein Einkaufswagen, keine leeren Flaschen, nicht zu einer Person, die ihren Rausch ausschlief. Es war eine Frau mittleren Alters.
„Hallo“ rief er leise, dann etwas lauter. Keine Reaktion. Er stieß sie vorsichtig an und merkte, dass sie tot war.
Er holte sein Handy aus der Tasche (das er zufällig dabei hatte) und wählte den Notruf.
„Bleiben sie vor Ort“ sagte der Diensthabende, ich schicke den Notarzt und einen Streifenwagen.
Ein paar Minuten später hörte er die Martinshörner.
Der Rettungssanitäter rannte mit seinem Koffer herbei, gefolgt von einer attraktiven Blonden, der Notärztin, die ebenfalls diese rot-weiße Einsatzjacke trug und weiße Hosen.
Offenbar tot stellten beide nach einer kurzen Untersuchung fest. Das EKG zeigte keine Herzaktion.
„Mindestens seit zwei Stunden“, die Totenstarre hat an den Augenlidern schon eingesetzt, die Pupillen weit und lichtstarr.
Die beiden Streifenpolizisten hatten inzwischen die Umgebung abgesucht, eine leere Medikamentenschachtel wäre z.B. ein Hinweis gewesen.
„Wir rücken wieder ab“ sagte die Ärztin ( der Notarzt kümmert sich nicht um Tote ) „Bleiben sie noch hier, die Kollegen von der Kripo müssen gleich hier sein“, sagte einer der Polizisten.
Der Kripobeamte ließ sich erst von der Notärztin berichten: „möglicherweise ein Herzinfarkt“ sagte sie und dann von den Streifenbeamten, die nichts Außergewöhnliches bemerkt hatten. Vor allem gab es keine Hinweise auf ein Fremdverschulden.
„Wir brauchen eine handfeste Todesursache“ sagte der Kripobeamte zu seinem Kollegen, „lass’ sie abholen.“
Als der Leichenwagen mit dem Transportsarg vorfuhr, waren die Beamten schon abgerückt.
Der Streifenwagen tat das dann auch.
„Wir haben einen Neuzugang, kümmerst du dich mal?“ Im Beerdigungsinstitut ist das Sache des Lehrlings. Das Gespräch über die Ausstattung und das Betreuen der Angehörigen ist dann Chefsache.
Patrick packte alle Sachen der Frau in einen dafür vorgesehenen Sack, die Wertsachen extra und protokollierte alles.
Dann wusch er die Leiche, manchmal lagen noch Kanülen an Armen, Beinen, manchmal auch am Hals und aus den Einstichstellen konnte Blut austreten. Dann zog er ihr ein Totenhemd an, legte sie in eine Wanne und schob sie in den Kühlraum. Blut hatte er keins gesehen, bis auf eine kleine Spur über der linken Brust, er dachte sich nichts dabei. Fast nichts.Dass bei einem Herzstillstand der Arzt schon mal Adrenalin direkt in die Herzkammer spritzt, hatte er schon gehört.
„Ich mache dann Feierabend“, rief er seinem Chef durch die offene Bürotüre zu.
Im Präsidium hatte der Kripobeamte gerade seinen Bericht fertig gemacht. „Wann bekommen wir das Obduktionsergebnis?“ Fragte er seinen Kollegen. „Eine Obduktion sollte erfolgen? ich dachte, sie hätte einen Herzinfarkt gehabt, der Bestatter hat sie abgeholt.“ „Trottel ich habe doch gesagt, dass wir eine handfeste Todesursache brauchen. Bring’ das in Ordnung.“
Er rief beim Bestatter an und im Gerichtsmedizinischen Institut, die Leiche wurde noch am Abend abgeholt.
Anne Dax
So hieß die Tote, war 45, als sie starb.
Sie stammte aus einem kleinen Städtchen im rheinland-pfälzischen. Dort lebten auch noch ihre Eltern und ihre Schwester. Sie hatte einen guten Kontakt zu ihrer Familie, insbesondere zu ihrer Schwester.
Der ging es zeitweise nicht gut, sie war psychisch instabil, Anne war immer in Sorge, dass sie wieder in stationäre Behandlung kommen würde.
Sie selbst hatte Biologie studiert, aber in diesem Bereich keine Anstellung bekommen, weswegen sie da und dort jobbte und über diesem Weg schließlich im Vorzimmer einer Chefetage landete, als „Direktionsassistentin“.
Ihre Stelle gefiel ihr gut, sie hatte neben dem Bürokram mit vielen interessanten Leuten zu tun und kam auch herum. Ihr Arbeitgeber, ein großer Verband, machte Lobbyarbeit und hatte guten Kontakt zu den Medien.
Sie hatte eine schöne Wohnung in einem Vorort und alles, was man so braucht. Es ging ihr gut.
Ihre feste Beziehung, in der sie sich gut aufgehoben fühlte, endete, als ihr Freund sie wegen einer anderen nach 10 Jahren Knall auf Fall verließ. Das traf sie, die 35 jährige schwer.
Die Trennung war noch gar nicht so lange her, als sie begann, sich nach einem neuen Partner um zu schauen. Sie schaltete eine Annonce in einer überregionalen Tageszeitung.
Tatsächlich lernte sie einen Arzt kennen, mit dem sie eine kurze, etwas mehr als ein halbes Jahr dauernde, intensive Beziehung hatte. Dann gab sie ihm den Laufpass.
Der Verband verlagerte seinen Sitz nach Berlin, wie viele andere Organisationen dieser Art auch.
Anne entschloss sich, nicht mit zu ziehen, auch wegen ihrer Familie. Sie zog in eine eigene Wohnung auf dem Dorf und lebte fortan sehr zurückgezogen.
Die Untersuchung
Im Institut für gerichtliche Medizin sollte am nächsten Tag stattfinden. Für Dr.Werner, den Obduzenten, war es die dritte Leiche an diesem Tag. Seit sein Chef diesen Artikel im Ärzteblatt untergebracht hatte, der auf die hohe Dunkelziffer hinwies von nicht natürlichen Todesursachen,
waren deutlich mehr Untersuchungen durchzuführen, etwas spektakuläres, etwa einen Mord, hatte er aber bisher nicht beweisen können.
Nachdem der Prosekturgehilfe die Leiche auf den Obduktionstisch gelegt hatte, begann er mit der äußeren Besichtigung wobei er mit monotoner Stimme alles was er sah in sein Diktiergerät sprach.
Nach der Eröffnung der Brusthöhle fiel ihm sofort der prall gespannte und bläulich schimmernde Herzbeutel auf. Die Frau war an einer Herzbeuteltamponade gestorben. Mit der Kamera wurde jetzt zusätzlich dokumentiert. Nach Eröffnung des Herzbeutels entleerte sich reichlich, teils geronnenes Blut, das Herz selbst war zusammengepresst.. Eine Ursache für diese Blutung sah man auf Anhieb nicht. Um ganz sicher eine Verletzung auszuschließen, injizierte er Wasser in die Herzkammern und tatsächlich entdeckte er ein Leck in der Herzwand mit der Lupe meinte er dort auch eine kleine Einblutung zu sehen. Wieder wurde alles fotografiert und dann ein Präparat für die histologische Untersuchung fertig gemacht. Bei diesem Befund musste sich auch ein Stichkanal in der Brustwand finden. Er sah sich diese noch einmal gezielt an und fand den Einstich, der sich sondieren ließ.
Er ärgerte sich, weil er diesen nicht gleich bei der äußeren Besichtigung entdeckt hatte, das sollte einem älteren Assistenten, der kurz vor der Habilitation stand, nicht mehr passieren.
Dass die Leiche gewaschen war und damit äußere Blutspuren nicht erkennbar waren und die Tatsache, dass sich der sehr kleine Einstich in einem Muttermal verborgen hatte, war ihm ein schwacher Trost.
Auch dieser Befund wurde für die feingewebliche Untersuchung präpariert. Sicherheitshalber nahm er noch ein Stückchen Gewebe zur Aufarbeitung für die DNA Analyse Datei.
Alle anderen Obduktionsbefunde waren dann ohne Besonderheiten
Der Ermittler
war Kriminalhauptkommissar Eichinger. Er fand die ganze Akte in seinem Posteingang. Da es sich offenbar um eine Gewalttat handelte, war er für die Ermittlung zuständig.
Der Auffindungsort war also nicht der Tatort, an einer Herzbeuteltamponade stirbt man ja auch mehr oder minder langsam und kann sich noch fortbewegen. Zeugen oder ein Tatwerkzeug gab es nicht.
Der Hergang war völlig unklar. Bringt man sich einen Stich ins Herz selbst bei? Er wusste, dass es die abenteuerlichsten Formen der Selbsttötung gibt, aber hier fehlte jeder Hinweis, kein Abschiedsbrief und den „Tatort“ verlässt man in so einer Situation eigentlich nicht. Sehr unwahrscheinlich. War es ein Unfall gewesen? Hatte hier ein Geschoss getroffen, ein Pfeil, oder eine Art Speer? Dann ruft man sehr wahrscheinlich um Hilfe. Gab es einen Täter? Dann würde man Spuren eines Kampfes erwarten und auch in dieser Situation ruft man um Hilfe.
Er hatte bisher gar nichts in der Hand.
Als erstes ließ er den ganzen Park noch einmal von einem Kommando der Bereitschaftspolizei absuchen, die auch Metalldedektoren benutzte. Außer üblichem Müll wurde nichts gefunden.
Die Kleidung der Toten wurde kriminaltechnisch untersucht. Die Bluse hatte einen Blutfleck an der Einstichstelle, wo sich auch ein kleines, triangelförmiges Loch im Stoff fand. Der fragliche Gegenstand konnte nur wenige Millimeter Durchmesser gehabt haben und war wohl rund oder dreieckig im Querschnitt gewesen. Ein Messer konnte es nicht gewesen sein.
Die restliche Kleidung, insbesondere der Mantel zeigte keinerlei Spuren, auch nichts, was sich für eine gentechnische Analyse eignete.
In der Geldbörse fanden sich zwei Fahrscheine der Stadtwerke. Der eine war am Hauptbahnhof gestempelt worden, der andere an einer Haltestelle in der Nähe der Kliniken. Das könnte ein Hinweis sein.
Das Handy wurde im Labor überprüft: es war am Vortag zuletzt benutzt worden, die Nummer war die ihrer Schwester.
Inzwischen hatte dieser die örtliche Polizei die Todesnachricht überbracht. Sie war erschüttert, behielt aber die Fassung. Eichinger rief sie an und kündigte seinen Besuch an, er wollte sie nicht ins Präsidium zitieren.
Ihre Schwester hatte als einziges Problem und das schon seit Wochen, starke Schmerzen im rechten Arm, sagte sie. Ihr Arzt hätte ihr starke Schmerzmittel verschrieben, die aber nichts geholfen hätten, ihr sei nur übel davon geworden. Sie wolle sich deswegen einmal in der Uni-Klinik untersuchen lassen.
Der Kommissar gab den Auftrag, herauszufinden, wo und wann Anne Dax Patientin gewesen war. Die Patientenaufnahme meldete Fehlanzeige, allerdings wurden dort nur alle stationären Aufnahmen erfasst. Also mussten alle existierenden Ambulanzen angefragt werden. In erster Linie in Frage kam die Chirurgie oder Orthopädie, auch die Internisten, bei Nervenschmerzen die Neurologie oder Neurochirurgie.
Relativ schnell stellte sich heraus, dass sie in der Neurochirurgie gewesen war.
Eichinger versuchte alles Aufsehen zu vermeiden, als er sich am Tresen der Aufnahme auswies.
Ja, sagte die Dame, die Patientin sei von ihrem Ambulanzarzt Dr. Wächter untersucht und auch behandelt worden.
Als der Doktor aus seinem Zimmer kam, sprach er ihn an.
Der Doktor bat ihn herein, sie setzten sich, der begleitende Kollege von Eichinger blieb stehen.
Frau Dax sei dreimal da gewesen, sagte der Doktor, er habe sie untersucht und, weil sie keine ausreichende Diagnostik mitbrachte (was eigentlich vorgeschrieben ist) habe er ein CT der Halswirbelsäule veranlasst, wo man auf den Bildern erkennen konnte, dass ein Loch auf der rechten Seite, wo eine Nervenwuzel austritt, durch Knochensporne eingeengt ist, was er für die Schmerzursache gehalten habe. Eine Operation macht man bei dieser Diagnose nur, wenn eine Nervenfunktionsstörung vorliegt, oder die Schmerzen, die ja sehr quälend sein können, nicht auf eine Behandlung ansprechen.
Man habe sich neben einer modifizierten Medikamenteneinnahme auf eine Behandlung mit Injektionen geeinigt, was man therapeutische Lokalanästhesie nennen würde. Außerdem hätte er ihr eine weiche Halsstütze verordnet, zur Ruhigstellung. Am fraglichen Tag habe sie eine Spritze bekommen, die er im Nackenbereich gesetzt hätte. Man mache auch Injektionen, die man Stellatumblockade nennt, davon hätte sie am Anfang eine gehabt. Da diese Art Injektion, die man von vorne macht, wobei das Gefäß-Nervenbündel zur Seite gehalten wird, nicht ganz ungefährlich ist, habe er das nur einmal gemacht, zumal die Patientin sagte, dass ihr die Injektion von hinten besser geholfen hätte. In drei Tagen war sie wiederbestellt.
Der Doktor machte auf ihn einen ruhigen, nicht unsympathischen Eindruck. Ihm fiel nur auf, dass der Arzt, als er den Grund seiner Ermittlung nannte, völlig unbeteiligt zu bleiben schien.
Am nächsten Tag rief er noch einmal die Schwester der Toten an und fragte, ob ihr zwischenzeitlich noch etwas eingefallen wäre. Sie verneinte und fragte ihrerseits, ob er über die Behandlung etwas herausgefunden hätte. Er sagte, dass Anne in der Neurochirurgie gewesen wäre und dort Spritzen bekommen hätte, Dr. Wächter wäre ihr behandelnder Arzt gewesen.
Alexandra schwieg. „Hallo, sind sie noch dran?“ Nach einer längeren Pause fragte Alexandra:“Wie hieß der Arzt?“ „Wächter, Dr. Helmut Wächter, er ist Oberarzt.“ „Meine Schwester kannte einen Dr. Wächter in der Neurochirurgie, es ist zirka 10 Jahre her, sie waren sogar einige Zeit zusammen. Dass sie sich von ihm getrennt hat, habe ich nicht verstanden. Ich fand ihn nett. Wegen meiner Probleme damals, hat er mir ein Buch geliehen, was mir sehr geholfen hat.“
Eichinger fand es sehr merkwürdig, dass der Arzt kein Wort darüber gesagt hatte, dass er seine Patientin gekannt hatte, privat und eng.
Dr. Wächter
war schon sehr lange an der Klinik, vielleicht zu lange. Aber jetzt, wenige Jahre vor seiner Pensionierung, kam für ihn nicht in Frage, noch einmal etwas Neues zu beginnen.
Als der Kripobeamte ihm gesagt hatte, dass Anne Dax tot sei, hatte er einen riesigen Schreck bekommen. Etwas Ähnliches war ihm schon einmal passiert. Ein Patient war ihm im Rahmen einer Spritzenbehandlung praktisch unter den Händen verstorben. Selbstverständlich waren alle intensivmedizinischen Maßnahmen durchgeführt worden, das progrediente Kreislauf- und Organversagen konnte jedoch nicht gestoppt werden.
Er musste damals der Ehefrau diese Mitteilung machen. Es war entsetzlich. Die Krankenakte wurde beschlagnahmt, die Leiche gerichtsmedizinisch obduziert. Ein Behandlungsfehler konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
Der Stichkanal lief nicht gerade zum Zielpunkt, etwas Entscheidendes war aber nicht getroffen worden. Das Medikament, ein örtliches Betäubungsmittel, konnte in der angewandten Dosierung keinen Herzstillstand erklären, selbst wenn es direkt in die Blutbahn gespritzt worden wäre.
Die Todesursache blieb letztlich unklar. Auch deswegen verfolgte ihn die Ehefrau weiter und bezichtigte ihn unverhohlen des Mordes.
Er selbst vermutete, dass dieser Patient eine verzögerte anaphylaktische Reaktion gehabt hatte.
Wenn ihm jetzt etwas Ähnliches vorzuwerfen wäre, würde dass die sofortige fristlose Kündigung für ihn bedeuten. Immerhin hatte er in der Vergangenheit schon zwei Abmahnungen hinnehmen müssen.
Mehrfach hatten sich Patienten und auch ärztliche Kollegen über sein Verhalten beschwert.
Er diente jetzt unter dem 3.Chef, die zwei Vorgänger waren jeweils pensioniert worden. Der neue Direktor war zwei Jahre jünger als er. Nach anfänglicher Toleranz, fühlte er, Wächter, sich zunehmend ausgegrenzt. Offen wurde von „Altlast“ gesprochen. Im Kollegium wurde er vom Chef als „faule Sau“ tituliert.
Je nach Stimmung wurde er gefragt, ob er nicht vorzeitig in Pension gehen wolle, einmal wurde er im Rahmen eines Wutanfalles auf dem Flur „gefeuert“.
Der Stand an der Klinik war für ihn immer schwieriger geworden. Es bildeten sich auch Lager, die einen hielten ihn für einen netten Kerl mit Hang zum Zynismus, die Minderzahl einschließlich Chef für einen möglicherweise gefährlichen Psychopathen.
Er hatte deswegen beschlossen, sein an sich sehr offenes Wesen möglichst zu bremsen, sowohl gegenüber Vorgesetzten, wie Patienten, wie nach außen z.B. gegenüber der Kripo.
Wieder im Büro grübelte Eichinger weiter über diesen Fall.
Der Arzt hatte ihm etwas verheimlicht. Das Opfer war, wenn es auch schon länger her war, mit ihm intim gewesen. War hier eine Beziehungstat der Beweggrund? Aber wie sollte der Doktor das gemacht haben? Immerhin erfordert ein gezielter Stich ins Herz einige anatomische Kenntnisse, die sollte man als Arzt haben.
Er legte die Akte zunächst einmal auf den Stapel „unerledigt“ und griff sich die nächste.
Als sein Kollege zur Tür hereinschaute, bat er ihn, ihm eine Tüte aus der Asservatenkammer mitzubringen. Er gab ihm die Registriernummer.
Die Tüte, die einige Gegenstände zu einem ebenfalls bisher ungeklärten Fall enthielt, lag auf der untersten Ebene des Regals. POM Heinz griff sie und sah dabei zufällig einen Zipfel einer Kunststofftüte hinter dem Regal auf dem Boden. Vermutlich war sie heruntergefallen.
Er zog sie heraus. Der Inhalt sah auf den ersten Blick aus wie so eine Art Korkenzieher.
Merkwürdig war, dass die Registrierung fehlte. Welchem Fall sollte man die Tüte zuordnen?
Er nahm sie auch mit.
Er gab Eichinger das Gewünschte und erzählte von seinem Fund. Der war ganz woanders und sagte nur halblaut:“kommt vor“.
Heinz sah sich den Gegenstand in der Tüte genauer an. In der Asservatenkammer der Mordkommission landen meist Gegenstände, die bei Straftaten eine Rolle gespielt haben zum Nachteil der Opfer. Vielleicht war das auch hier der Fall, dann handelte es sich um ein wichtiges Beweismittel. Es sollte zugeordnet werden. In der Mittagspause fragte er seinen Kollegen vom Kriminaltechnischen Dienst, den er noch von der Polizeischule her kannte, ob er nicht einmal prüfen könne, ob sich an dem Gegenstand DNA befinde, dann könne man über diese Spur eventuell zuordnen.
Kevin
War kürzlich 14 geworden. Er war stinksauer. Seine Lehrerin hatte ihm gesagt, dass seine Versetzung gefährdet sei, seine Mutter würde einen entsprechenden Brief kriegen. Das wäre dann die zweite „Ehrenrunde“. Die Ehe seiner Eltern war auseinander gegangen als er 4 war. Seinen Vater kannte er so gut wie nicht. Selten, ein- zweimal im Jahr, meldete er sich, z.B. zum Geburtstag. Seine Mutter war „allein erziehend“ und er der einzige Sohn. Für seine Mutter war er das Ein- und Alles. Die ständige Bevormundung störte ihn sehr. Auf die Schule hatte er überhaupt keinen Bock. Allein die Vorstellung etwas machen zu müssen, sozusagen auf Termin, war ihm ein Gräuel. Was das für die Zukunft bedeutet, war ihm jetzt egal. Er wollte eigentlich nur älter werden und selbständiger. Sein zuhause waren seine Kumpels, die waren schon älter, hatten auch Geld, da fühlte er sich wohl. Erst recht, wenn alle eine Bierflasche in der Hand hatten. Er durfte ja keins kaufen, aber die älteren hatten kein Problem. Klar, der Eine oder Andere kiffte oder hatte schon mal was eingeworfen. Vom Rudi wusste er, der war „vorbestraft“. Er selbst war „clean“.
Den Rest des Vormittages schwänzte er und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof.
Vielleicht war einer seiner Kumpels da.
Er trug jetzt nicht mehr diese Schlabberjeans, wo der Schritt in Kniehöhe ist und die Kette an der Seite baumelt, zum Geburtstag hatte er diese Militärhose bekommen mit diesem grau-beigen Tarnmuster und den vielen Taschen. Die trug er jetzt. Obenrum hatte er seinen „style“ nicht geändert, Tom Kaulitz fand er geil.
Bei seinen Jungs musste man aufpassen, das wusste er. Wenn man ihnen, nach ihrer Meinung dumm kam, gab es welche, die dann brutal wurden. Schnell hatte man sich Schläge eingefangen und dabei hatten die auch mal was in der Hand: einen Schläger, einen Schlagring oder eine Flasche. Um im Falle des Falles gerüstet zu sein hatte er sich „bewaffnet“. Er würde es denen dann schon zeigen. Seine „Waffe“ trug er stets bei sich: in der rechten, großen Oberschenkeltasche. Wenn er unterwegs war, hatte er meistens die Hand in der Tasche und das Ding umklammert. Er fühlte sich dann stark, unverletzbar und keiner konnte es ihm ansehen.
Der Bus war sehr voll. Er hatte zu spät gesehen, dass zwei Kontrolleure eingestiegen waren. Er merkte, wie sich sein Puls verstärkte. Scheinbar gelangweilt hielt er seinen Blick auf den Monitor gerichtet, der die Haltestellen anzeigte, vielleicht schafft er es, bei der nächsten noch raus zu kommen.
Der Bus hielt, die Tür ging zischend auf, Kevin fing an zu toben, stieß die Leute zur Seite, verpasste der Frau an der Tür einen kräftigen Fauststoß und war draußen. Er war diesen Arschlöchern entkommen, glaubte er. Er stecke seine Hand wieder in die Tasche.
Ein paar Tage später stellte ihn seine Mutter zur Rede, sie habe da einen Brief bekommen. Ach du Scheiße, der blaue Brief, dachte er. Es war aber eine Vorladung aufs Polizeirevier. Er hatte bei der Aktion seinen Schulausweis verloren und die Leute von der Stadt hatten ihn angezeigt.
Auf dem Revier wartete er auf seine „Anhörung“. Plötzlich gab es Trubel auf dem Flur, ein paar Jugendliche lieferten sich eine Rangelei mit den Beamten. Einer rief. „Kevin, was machst du denn hier?“ es waren seine Kumpels. Die Beamten holten Verstärkung und stellten allesamt an die Wand und filzten sie einschließlich Kevin, denn der gehörte ja dazu, wie man sah.
Bei Kevin fanden sie das Ding in der Tasche und konfiszierten es. Bei der Vernehmung stellte sich dann heraus, dass es bei Kevin um etwas anderes ging. Sie ließen ihn schließlich laufen.
Polizeiobermeister Heinz hatte gerade in seine Wurstsemmel gebissen, als das Telefon zu dudeln anfing. Er ließ es läuten und brachte erstmal seinen Bissen hinunter. Schließlich spricht man nicht mit vollem Mund. Am anderen Ende war sein Kollege vom Labor. „Stell dir vor, an der Spitze von dem unbekannten Asservat, das du mir gegeben hast, war ein winziges Stück menschlichen Gewebes, unter der Lupe sah man auch, dass die Spitze umgebogen war, wie ein Angelhaken.“ „Und?“, „wir konnten eine DNA Analyse machen, im Moment läuft noch der Abgleich mit den Daten auf dem Server.“
Wenig später kam die Meldung: die DNA Analyse hatte ergeben, dass die Spur von Anna Dax stammt, man hatte das Tatwerkzeug gefunden.
Die Nachricht wurde sofort Eichinger übermittelt.
Der ließ sich alle neuen Informationen geben, den Laborbericht und die Quelle der DNA-Spur.
Ohne Zweifel passte das Ding zu dem gesuchten Tatwerkzeug: an einem Holzgriff, wie man ihn bei älteren Korkenziehern findet, war statt des Gewindes ein mehrere Zentimeter langer Dorn montiert, der noch dazu mit einer Feile bearbeitet worden war, er muss mal sehr spitz gewesen sein. Mit einer Ahle hat man die Kraft Leder zu durchbohren, wie es ja der Schuster macht.
Das passte gut zum Verletzungsmuster.
Er ließ nach Fingerabdrücken auf dem Griff suchen: es fanden sich einige brauchbare.
Da sucht man nach der Nadel im Heuhaufen, dachte er, dabei liegt sie einem vor den Füssen, man braucht sie nur aufzuheben. In wenigen Jahren würde er in Pension gehen, vielleicht sollte er dann ein Buch über seine Erlebnisse schreiben, diese Geschichte sollte ein Kapitel abgeben.
Mindestens ein Kollege musste das Ding in der Hand gehabt haben, sonst wäre es nicht ins Haus gelangt und erst recht nicht bei der Asservaten. Er wird sie alle befragen müssen, am besten im Rahmen der täglichen Einsatzbesprechungen. Er kalkulierte dafür drei Tage, denn es waren nie alle zu gleich da: einige hatten dienstfrei, einige waren im Außendienst, einige im Urlaub, ein paar krankgeschrieben.
Bei der ersten Einsatzbesprechung zeigte er den Gegenstand und fragte alle, wer ihn schon einmal gesehen oder in der Hand gehabt habe. Schweigen, auch in den nächsten beiden Besprechungen. Bei der vierten, einige kannten den Auftritt jetzt schon, hatte er das Gefühl, dass einige sich über ihn lustig machten: der Eichinger mit seinem Ding.
Er verlor die Geduld: „Verdammt noch mal, ich brauche eine Antwort, wer hat das Ding in der Hand gehabt?“ brüllte er in den Raum.
Ein junger Beamter in der hintersten Reihe fragte vorsichtig. „darf ich mir das mal näher ansehen?“
„Kommen Sie nach vorne!“ raunzte der Kommissar. „Ich glaube, das habe ich vor ein paar Tagen einem Jungen abgenommen.“ „Was heißt ich glaube, haben Sie, oder haben Sie nicht, dass weiß man doch.“ Eichinger mochte kein Herumgerede
„Da war eine Gruppe Jugendlicher, einer hatte dieses Teil in der Tasche, da man damit Unsinn machen kann, habe ich es ihm abgenommen. Wie es zu den Asservaten kam, weiß ich nicht.“ Also noch einer, der es in der Hand gehabt haben musste, dachte Eichinger und sah ihn dabei prüfend an.
„Wie heißt der Knabe, Name, Adresse!“ „ Das kann ich im Moment nicht sagen, er war wohl der jüngste in der Gruppe, außerdem war er nicht wegen einer Tätlichkeit da, sondern wegen einer Anzeige, weil er schwarzgefahren war. Wir haben ihn dann gehen lassen.“
Möglicherweise gibt es deswegen bei uns darüber keine Akte und auch keine Registriernummer, schloss Eichinger.
„Ich möchte bis 10.00 h die Daten des Jungen haben, machen Sie sich an die Arbeit.“ Der Beamte gehorchte.
Er ging ins Betrugsdezernat und erinnerte auf dem Weg, dass der Typ Kevin geheißen hatte.
Der Kollege, der Zugang zu den Datensätzen hatte, suchte unter diesem Namen, eine lange Liste erschien auf dem Monitor, unbrauchbar. Dem Polizisten fiel ein, dass das irgendwann in der Monatsmitte gewesen sein musste. Die Suche wurde auf das Datum vom 14. bis 16.06. eingeschränkt.
Unter dem 16. fanden sich drei Einträge, beim lesen fiel ihm auch wieder der Nachname des Gesuchten ein: Gott sei Dank. Er ließ sich das Datenblatt Kevin ausdrucken.
Ich werde diesem Kevin und seiner Familie einen Besuch abstatten, heute Nachmittag und unangemeldet, beschloss Eichinger.
Kevins Mutter öffnete die Tür, Eichinger wies sich aus und stellte seinen Kollegen Heinz vor.
Kevin war nicht zuhause. „Er kommt fast nur noch zum Schlafen, ich weiß nicht, wo er jetzt ist.“ sagte sie. „Wir müssen zusammen etwas klären. Kommen Sie morgen Nachmittag ins Präsidium, hier ist meine Karte. Wenn das nicht geht, rufen Sie mich auf jeden Fall an.“
Dass er Kevins Fingerabdrücke nehmen wollte, sagte er nicht.
Die Vernehmung
Am nächsten Tag erschienen beide im Präsidium. „Warten Sie bitte hier, ich spreche mit Kevin erst einmal alleine“.
„Du bist also der Kevin?“, „Ja“, „dann komm’ mal bitte mit.“
Im Verhörraum knallte Eichinger die Akte auf den Tisch, beide setzten sich.
„Gehört das dir?“ fragte er und zeigte Kevin das Tatwerkzeug. „Ja, das ist meine Waffe.“ Kevin ahnte nichts Böses. „Wo hast du die her?“ „Die hab ich mir gebastelt, damit ich mich gegen stärkere verteidigen kann.“
Der Kommissar holte ein Foto aus der Akte, er hatte es von Anne Dax’ Schwester zur Verfügung gestellt bekommen und zeigte sie im Portrait.
„Kennst du diese Frau?“ „Nö“
„Wo warst du am 16. Juni, das war ein Mittwoch, vormittags?“
„Weiß ich nicht mehr.“
„Verdammt noch mal, denk’ nach, ich weiß mehr von dir, als du ahnst und keine faulen Ausreden.“
Eichinger wurde laut.
Mittwochs hatte er, neben Mathe und Sport, Deutsch bei der Klassenlehrerin. War das nicht der Tag, als sie den blauen Brief ankündigte?
„In der Schule“
Die Tat, um die es hier ging, war zwischen 10 und 11 Uhr am Vormittag passiert.
„Gut, ich werde mich in der Schule erkundigen.“
Scheiße, dachte Kevin, er hatte die zweite Vormittagshälfte geschwänzt. Er merkte, dass er ganz schön in der Bredouille war.
„Ich habe ein paar Stunden geschwänzt.“
„Na also, weiter, was hast du gemacht?“
„Ich bin mit dem Bus zum Bahnhof gefahren, wollte meine Kumpels treffen, das war die Fahrt, wo mich beinahe die Kontrolleure erwischt hätten.“
„Hast du die Frau im Bus gesehen?“
„Nein, da waren viele Leute.“
„Die Frau hatte einen beigen Regenmantel an und trug eine rot-braun gemusterte Bluse.“
Kevin zuckte die Schultern. Als er aus dem Bus stürzte, hatte er ein paar Leute zur Seite gestoßen und einer Frau an der Tür eine vor den Latz geknallt, die hatte einen Mantel angehabt, sollte er das sagen?
„Bist du mit deiner „Waffe“ auf jemanden losgegangen?“
„Nein, ich wollte nur raus aus dem Bus.“
„Aber du hattest doch das Ding in der Hand?“
Eichinger klopfte auf den Busch.
Kevin hatte meistens das Ding umklammert, egal ob er sich bedroht fühlte, oder nicht. Das konnte der Kommissar unmöglich wissen.
„Vielleicht hast du jemanden unabsichtlich damit verletzt?“
Eichinger bohrte nach.
„Kann sein, auf jeden Fall unabsichtlich.“
Das Geständnis, für Eichinger war der Fall gelöst.
Kevin wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Jugendstrafe verurteilt.
Seine „Kumpels“, derentwegen er sich „bewaffnet“ hatte, blieben ungeschoren.
Sie hatten ja nichts mit dem Fall zu tun.
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