Das Komplott
Claudia Büser (40) hatte eine Blitzkarriere hingelegt. Aus einem Arzthaushalt stammend, redegewandt, war sie schon in der Schule zur Sprecherin avanciert. Sie hatte zwar kein Einser, aber ein gutes Abitur gemacht und sich dann entschieden Jus und BWL zu studieren.
Sie rechnete sich damit die besten Chancen aus. Schon nach dem Abi schloss sie sich einer großen, als konservativ geltenden Partei an. Ein ehemaliger Bürgermeister, der in der Nachbarschaft wohnte, hatte ihr schon einige Türen geöffnet. Beredsamkeit verbunden mit den erworbenen Qualifikationen, dazu ein Schuss Vitamin B machten schnell aus der Lokalpolitikerin eine Kandidatin für die große Politik. Mit 30 wurde sie in das Amt einer parlamentarischen Staatssekretärin berufen. Natürlich hatte die geforderte Frauenquote dabei auch eine Rolle gespielt. Weil sie mit ihrem Minister nicht zurecht kam wechselte sie einmal das Ressort, in der gleichen Position.
Parteifreunde zu haben ist wichtig und gewählt werden ist auch ein Erfordernis. Unter wahrer Freundschaft verstand Frau Büser etwas Anderes. Nach einigen Jahren wechselte sie von der Politik in die Wirtschaft. Durch ihre Ämter hatte sie einige wichtige Leute kennen gelernt, die hinwiederum an Politikinsidern interessiert waren. Man hatte schon auf ihre Bewerbung gewartet. Sie trat eine Topposition in einem großen Pharmakonzern an.
Friedrich Kronstädter musste etwas länger an seiner Karriere arbeiten. Seine hohe Intelligenz stellte ihn über die anderen Schüler, er fand Schule langweilig. Eher philosophisch motiviert studierte er Humanmedizin und wurde Assistent an einer Universitätsklinik für Neurologie.
Als fleißiger Wissenschaftler gelang ihm auch rasch die Habilitation. Schon mit 40 wurde er Direktor einer neurologischen Universitätsklinik. Diese Position hielt er jetzt seit 20 Jahren.
Hans Ippendorf hatte Installateur gelernt. Nachdem er seinen Meisterbrief in der Tasche hatte eröffnete er ganz in der Nähe seines Elternhauses einen Betrieb: „Heizung, Sanitär und Klima“. Er war erfolgreich mit diesem Geschäft, fuhr einen großen, schweren, silberfarbenen Mercedes. Jetzt mit 60 wollte er endlich das Leben genießen und hatte das Glück, dass sein Sohn den Betrieb übernahm.
Diese drei, mit dieser unterschiedlichen Vita, verband eines: ihr Schicksal.
Chefetage
Üblicherweise fand einmal im Monat die Sitzung des Firmenmanagements statt. Büser hatte diesesmal vertretungsweise den Vorsitz übernommen.
„Meine Dame (Heiterkeit) und meine Herren, wie Sie wissen, sind wir heute hier, um die neue Unternehmensstrategie zu besprechen. Im letzten Jahr haben wir schwarze Zahlen geschrieben und auch einen guten Gewinn erzielt, aber das kann sich, auch im Hinblick auf die neueste Entwicklung in der Politik, rasch ändern. Wenn wir in die Verlustzone geraten, werden Köpfe rollen, ich rede nicht unbedingt von Ihren (Erleichterung), sondern wir werden dann im Personalbereich in den verschiedenen Werken uns verkleinern müssen. Mir graut schon jetzt vor der Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften. (beifälliges Nicken)
Als wichtiges Mitglied im Verband der forschenden Pharmaindustrie haben wir eine Machtposition, die es zu halten gilt.
In der Forschungsabteilung unseres Tochterunternehmens in den USA ist ein neues Medikament entwickelt worden. Es handelt sich um ein Mittel gegen Krebs. Bekanntlich sind wir bei diesen Medikamenten führend, dieser Sektor erscheint in unserer Bilanz am umsatzstärksten.
Es geht jetzt darum, dieses Medikament am Markt einzuführen. Als erstes erwarte ich eine entsprechende Medienkampagne, dann müssen alle Anwender geimpft werden, also intensive Arztkontakte einschließlich der Krankenhäuser und deren Apotheken. Ich bitte alle Abteilungsleiter entsprechend ihren Möglichkeiten aktiv zu werden. Das ganze muss außerdem wasserdicht abgesichert sein, nicht das wir nachher eine böse Überraschung erleben.
Einen Bericht hierüber erwarte ich in der nächsten Sitzung.“
Das Meeting setzte sich dann mit verschiedenen anderen Tagungsordnungspunkten fort.
Klinik
Einmal in der Woche war Chefvisite. Der Professor ging dann mit den Oberärzten und den jeweils zuständigen Assistenzärzten über alle Station seines Hauses, um die Patienten zu sehen. Das war schon immer so. Im Fachjargon nennt man diese Versammlung von weißen Kitteln „fluor albus“. Das Ritual war, dass der Assistent den Patienten vorstellte, also seine Symptome aufzählte oder gleich die Diagnose nannte. Hatte der Professor Zweifel, überzeugte er sich persönlich von den Befunden, lag der Assistent falsch, bekam er eine entsprechende Rückmeldung. Zur Not griff der Oberarzt helfend ein.
„Wir haben beim Patienten im MRT ein Neo gesehen und werden das morgen in der Konferenz mit den Kollegen von nebenan besprechen.“ Das hieß im Klartext: der Patient hat Krebs, er sollte operiert werden und die Neurochirurgen sollen ihn rasch übernehmen.
Die Uhr ging auf 17.00 h, Kronstädter drängte zur Eile, er hatte noch einige Telefonate zu führen, außerdem musste er zur Klinikkonferenz. Da würden ihn nicht nur einige ungeliebte Kollegen erwarten, sondern auch der Kaufmännische Direktor mit seiner ewigen Nörgelei.
Auf den Samstag hatte er einen Vorstellungstermin gelegt. Auf die freigewordene Oberarztstelle hatte sich ein Dozent beworben, der schon einige Meriten vorzuweisen hatte, da musste er sich etwas Zeit nehmen.
Nächste Woche musste er die Japanreise antreten. Er war Ehrenmitglied in der dortigen Neurologischen Gesellschaft und zu einem Vortrag zu seinem Spezialthema ALS eingeladen.
Den Vortrag hatte er zwar schon einige male gehalten, die Ergebnisse zweier neuer Arbeiten mussten aber noch eingearbeitet werden, mit den entsprechenden Dias. Das wollte er am Sonntag machen.
Büro
Der Senior Ippendorf ging jeden Tag nach dem Frühstück ins Büro. Dort sah er sich die aktuellen Aufträge an und sah nach, wie weit die schriftlichen Angebote gediehen waren.
Der Werkstattwagen war um diese Zeit meist schon unterwegs. Sein Sohn hatte den Betrieb ins Internet gestellt, worauf die Auftragslage sich deutlich verbesserte. Seine „Runden“ sah der Sohn mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits schätzte er durchaus einen guten Tipp des Alten, bei Bedarf, andererseits war er jetzt der Chef. Er fühlte sich überwacht.
Hans Ippendorf plante für dieses Jahr einen etwas aufwändigeren Urlaub. Eine Kreuzfahrt im Mittelmeer mit dem neuesten AIDA Schiff. Alternativ dachte er an eine Reise in die Emirate, wo die gleiche Reederei tätig war. Warum sollte er sich jetzt nicht einmal etwas Luxus leisten.
Der Beginn
Claudia Büser hatte eine anstrengende Woche hinter sich. Das Wochenende stand bevor, das erste seit längerer Zeit ohne Termine. Sie würde es sich in ihrem gemütlichen Heim endlich einmal bequem machen.
Am Samstag wachte sie mit grässlichen Kopfschmerzen auf. Sie fühlte sich, als habe sie jemand aufs Auge geschlagen und sie hätte jetzt ein „Veilchen“. Im Spiegel sah man nichts, außer, dass sie etwas blass war. Ihr wurde übel. Sie nahm zwei Aspirin und legte sich wieder ins Bett.
Mit der Fernbedienung ließ sie die Rollläden herunter. Aus dem gemütlichen Wochenende wurde nichts. Da sie sich richtig krank fühlte, kontaktierte sie ihre Hausärztin, die ihr einen kurzfristigen Termin gab.
Die Ärztin war ursprünglich als Anästhesistin tätig gewesen, hatte sich aber dann niedergelassen, als es am Krankenhaus immer schwieriger wurde.
Sie ließ sich die Symptome schildern, hörte Herz und Lungen ab, und machte ein EKG nachdem sie den Blutdruck gemessen hatte.
„Wir sollten auch ein großes Labor machen, Sie waren schon längere Zeit nicht mehr hier, zum allround check.“
Vorerst diagnostizierte sie eine typische Migräne, wollte sich aber der Patientin gegenüber noch nicht festlegen, solange die Laborwerte noch nicht vorlagen.
„Ich verschreibe Ihnen erst einmal ein besser wirksames Schmerzmittel und würde Sie bitten, mich übermorgen anzurufen, damit wir das weitere Vorgehen besprechen.“
Die Laborbefunde waren normal. „Ich habe in den nächsten Tagen einige wichtige Termine, wenn ich die versäume, komme ich in große Schwierigkeiten. Haben Sie eine Ursache gefunden?“ fragte sie die Ärztin.
„Ich denke, dass sie einen Migräneanfall hatten.“ und „Zur Sicherheit können wir eine Kernspintomografie des Kopfes machen.“ rutschte es ihr heraus. Sie versprach sich von dieser Untersuchung nichts, aber die Patientin war eine wichtige Person, außerdem „P“ und sie wollte sich keinen Fehler leisten.
Die Patientin griff diese Idee sofort auf und meldete sich bei einem Radiologen, der mehrere dieser Geräte in der Stadt in Betrieb hatte an.
Zum Untersuchungstermin hatte sie keine Kopfschmerzen mehr, aber sie wollte endlich wissen, wie sie dran ist und konsequent bleiben.
Lästig fand sie, dass man ihr nach dem ersten Durchgang Kontrastmittel spritzte und einen zweiten machte. Wieder sagte die RMTA ihre Standartsätze, die die Patientin instruieren und auch beruhigen sollten. Viele bekamen Angst in der Röhre, erst recht, wenn es zu wummern anfing.
Das Messergebnis dieses „bildgebenden Verfahrens“ wird von einem der vielen Doktoren meist am Nachmittag an einem Monitor ausgewertet, wo er sich die große Menge der entstandenen Bilder ansieht und einen Befund diktiert.
In diesem Fall diktierte er seinen Bericht etwas vieldeutig und fühlte sich ausreichend sicher mit dem Schlusssatz. „dringende Vorstellung beim Neurochirurgen empfohlen.“
Frau Dr.Pommer, die Hausärztin, erschrak als sie den Befund las, den ihr der Radiologe gleich gefaxt hatte. „Was sage ich jetzt der Patientin?“, der Radiologe sprach von einer Metastase, schloss aber einen anderen Prozess nicht aus, auch keinen hirneigenen Tumor, der dann hoch bösartig sein würde. Sie bat die Patientin zur Befundbesprechung in die Praxis. Am liebsten hätte sie diesen ihr anhand der Bilder erklärt. Es gab aber keine Bilder, nur eine CD, auf der diese abgespeichert waren und mit der konnte sie nichts anfangen. Mit der Bild Interpretation wäre sie allerdings auch überfordert.
Sie riet der Patientin, doch einmal einen Spezialisten zu fragen, da unklar wäre, wie ernst man den Befund nehmen müsste, am besten jemanden, der sowohl etwas von den Bildern versteht, wie von der eventuell notwendigen Behandlung. Das wäre ein Neurochirurg. Der Chef an der hiesigen Uni-Klinik wäre wohl der richtige. Man höre, dass dieser eine menschliche Katastrophe sei, aber fachlich sei er eine anerkannte Kapazität.
Frau Brüser war irritiert, ein bösartiger Tumor? Die Kopfschmerzen hatte sie doch schon jahrelang, nur nicht so schlimm, wie neulich. Humbug. Außerdem wusste sie, dass Fehldiagnosen nicht selten sind. Bei einer Patientin hatte man einen MS Herd, also eine entzündliche Veränderung, im Hirn für einen bösartigen Tumor gehalten, sie war sogar deswegen daran operiert worden, wonach sich die Diagnose klärte. Eine Pharmareferentin war bei ihrer Literaturrecherche auf diesen Fall gestoßen.
Was auf dem Tisch ist, muss auch wieder vom Tisch. Sie vereinbarte einen Termin in der Privatsprechstunde. Die Sekretärin gab ihr einen in 4 Wochen und sagte, dass sie ein Chefarztstellvertreter sehen könne, wenn der ihr zu spät sei.
Die Hausärztin riet ihr, gleich in die Klinik zu gehen (sie wusste schon warum).
Sie solle die CD mitnehmen, mehr bräuchte sie nicht.
Zunächst musste sie einen Haufen Papier unterschreiben. Der außergewöhnlich hohe Steigerungssatz war ihr schon aufgefallen, den Rest hatte sie nicht so genau studiert.
Der Doktor war ein ganz gewöhnlicher Doktor. Auf seinem Namensschild stand zwar Oberarzt, er war aber anscheinend frei von Chefarztallüren. Er untersuchte sie, wobei sie über den einen oder anderen neurologischen Test zusammen lachten. Es sei alles o.k. sagte er.
Dann sah er sich die Bilder an und erklärte ihr, um welchen Befund es ging, welche Bedeutung das hat und welche Diagnosen in Frage kommen. Er erwähnte auch die Geschichte vom MS Herd, was sie tröstlich fand. Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung hatte der Arzt eigentlich keinen Zweifel, dass es sich um ein Glioblastom handelt, den bösartigsten Hirntumor, den man kennt. Das betonte er aber jetzt nicht und sagte ihr nur, dass es sich um einen Zufallsbefund handele. Ihre Beschwerden seien ein Migräneanfall gewesen. Zum MRT Befund nannte einige Prozentzahlen und unterstrich immer wieder, dass die richtige Diagnose nur über eine histologische Untersuchung zu stellen sei.
Sie solle doch einmal über eine Operation nachdenken, die nicht so schlimm sei, täglich würden solche Eingriffe hier im Haus durchgeführt. Von einer Verlaufbeobachtung riet er ab, da in ein paar Wochen der Befund sehr viel größer werden könne und dann alles noch viel schwieriger sei.
Er stelle ihr schon einmal ein Rezept über ein hochwirksames Cortisonpräparat aus, mit dem zugehörigen Einnahmeplan, sie solle aber die Einnahme erst starten, wenn sie operiert werden wolle und ein OP Termin feststünde.
Claudia Brüser konnte das alles nicht glauben. Sie rief ihre Schwester an und traf sich mit ihrer besten Freundin. Sonst hatte sie niemanden mit dem sie darüber sprechen konnte.
Beide zeigten sich betroffen und rieten, was sollten sie auch machen, zur Operation.
Sie suchte noch einmal ihre Hausärztin auf und berichtete, was man in der Klinik mit ihr besprochen habe. „Dann rate ich ihnen, die Operation schnellstens durchführen zu lassen.“
Sie musste erst einmal eine Nacht darüber schlafen.
Prof. Kronstädter saß an seinem Schreibtisch und ging das neueste Werk seines zweiten Oberarztes durch, das dieser, besser gesagt, sein Doktorand verfasst hatte.
Urplötzlich bemerkte er einen leichten Schwindel, dann fing seine linke Gesichtshälfte an zu zucken, er konnte das im spiegelnden Glas seines Familienfotos auf dem Tisch auch sehen, dann fing auch seine linke Hand an zu zucken. So plötzlich, wie der Spuk gekommen war, verschwand er auch wieder. Mein Gott, ein kleiner epileptischer Anfall, dachte er, als auch schon der zweite einsetzte.
Ihm war klar, dass sich hier nicht erstmals ein Alterswehwehchen bemerkbar machte. Ihm war klar, dass hier etwas Hirnorganisches ursächlich sein musste. Er wartete eine halbe Stunde ab, um sich zu ordnen. Dann rief er seinen ersten Oberarzt an, der auch der Meinung war, dass man umgehend bildgebend untersuchen sollte. Noch am Abend gegen 10:00 h, wenn die angemeldeten Untersuchungen durch sind und auch das meiste Personal nicht mehr im Haus ist, sollte eine Computertomografie gemacht werden, dann wäre man schon ein großes Stück weiter.
Die CT Untersuchung war in wenigen Minuten erledigt. Schon auf den Nativbildern sah man eine relativ große, hypodense Zone im rechten Schläfenlappen. Zur weiteren Klärung musste jetzt auch mit Kontrastmittel untersucht werden. Es stellte sich die typische Ringstruktur dar.
Die Diagnose lautete: Glioblastoma multiforme.
Kronstädter ging in seine Räume und legte sich hin.
Alle Termine mussten abgesagt werden. Seine Lebenserwartung betrug nur noch wenige Monate, dass wusste er, genügend Fälle dieser Art hatte er selbst erlebt.
Er begann sofort mit der Dexamethason Einnahme.
Auch dass er sich operieren lassen würde, war für ihn klar.
Der Meister freute sich schon auf die Kreuzfahrt, die Buchungsbestätigung war gerade gekommen. Schnell ging er noch einmal ins Büro. Auf dem Weg rammte er den Türrahmen. „Das fehlt mir gerade noch, dass ich mich jetzt verletze.“ Es war aber nichts sonst passiert.
Wenig später passierte ihm das Gleiche noch einmal. Beim Essen erzählte er davon seiner Frau. Sie sah ihn an und meinte: „Vielleicht ist etwas mit deinen Augen, du guckst auch so schief. Geh’ doch mal zum Augenarzt.“
Der Augenarzt sagte ihm, dass die Augen in Ordnung seinen. Er bräuchte auch keine neue Brille. Der Blick fiel ihm auch auf. „Wir sollten doch einmal das Gesichtsfeld vermessen.“
Es stellte sich heraus, dass das Gesichtsfeld nach einer Seite nahezu vollständig ausgefallen war. „Dieser Befund erklärt, warum sie den Türrahmen nicht gesehen haben. Die Ursache muss hinter den Augen liegen, im Kopf, vielleicht haben sie eine Durchblutungsstörung.
Sprechen sie doch mit ihrem Hausarzt, der sollte auch weitere Untersuchungen veranlassen.“
Das sagte er, weil er therapeutisch sowieso nichts machen konnte.
Der Hausarzt sah auf seine Karteikarte. Dann untersuchte er alles, was in seinen Rahmen passte und begründbar war. „Nach der Computertomografie sprechen wir weiter.“ Er wollte nicht gleich zur Kernspintomografie greifen, die dreimal teurer ist.
Im CT sah man einen großen Befund im rechten Hinterhauptslappen, der offenbar die dortigen Teile des Sehzentrums außer Funktion gesetzt hatte.
Der Radiologe, den die MTA gleich informiert hatte, rief den Hausarzt an und holte sich dessen Einverständnis, dass noch eine Kernspintomografie angeschlossen würde.
„Ich schicke Dir noch eine Überweisung.“ Er kannte Rudi vom Studium her.
Im MRT sah man jetzt die ganze Bescherung.
Ippendorf Senior wurde wenig später vom gleichen Arzt gesehen, der auch Frau Büser gesehen hatte. Die Diagnose war die gleiche. Der Ehefrau sagte er unter vier Augen, was er von der ganzen Sache hielt.
Zweiter Teil
Claudia Büser ging ins Aufnahmebüro und erledigte alle Formalitäten. Wohl oder übel hatte sie sich zu dem Eingriff entschlossen. Morgen sollte sie operiert werden. Der Professor würde es persönlich machen. Vorbild war ihr ein bekannter Politiker. War der nicht auch an einem Hirntumor operiert worden? Als dieser nach einigen Wochen wieder in TV Sendungen erschien, sah man äußerlich nichts. Er wirkte auch nicht verändert oder beeinträchtigt.
Die meisten Sorgen machte sie sich um ihre Haare. Ihr würde kein Haar gekrümmt, er meinte damit abgeschnitten, hatte ihr der Professor gesagt.
Als sie die Augen aufmachte, störte sie der Schein einer Taschenlampe. Sie wäre jetzt auf der Intensivstation, die OP wäre vorbei und alles gut, sagte die Schwester und prüfte die Pupillenreaktion weiter.
Etwas schlapp fühlte sie sich, aber sonst bemerkte sie keinerlei Einschränkungen.
Einige Tage später lief sie über die Station und fand, dass es vielen anderen doch schlechter ging als ihr.
Der histologische Befund kam nach fünf Tagen. Er war zwei Seiten lang. Der Professor überflog ihn und interessierte sich eigentlich nur für den letzten Satz: „ …... was mit einem Glioblastom vereinbar ist.“
Einer seiner Assistenten hatte mehrere Arbeiten über hirneigene Tumoren veröffentlicht. Er las den Bericht genauer. Das nach seiner Meinung pseudofachmännische Geschwafel missfiel ihm. Wichtig fand er, dass im Präparat auch Teile eines Oligodendroglioms gesehen und beschrieben wurden. Damit war der Tumor kein klassisches Glioblastom, sondern ein jetzt malignisierter, ehemals relativ gutartiger Hirntumor. Von diesen wusste man, dass sie eine längere Vorgeschichte und auch einen günstigeren Verlauf hatten.
In der Tumorkonferenz brachte er diesen Fall zur Sprache. Der Neuropathologe wiederholte seine schon schriftlich gemachten Äußerungen und fügte hinzu: „Sie haben ja Recht, aber die Vorschriften der WHO zwingen uns diesen Tumor als Glioblastom zu klassifizieren.“
Bei der Visite eröffnete der Professor ihr den Befund. „Wir müssen eine Nachbestrahlung planen und eine Chemotherapie anschließen. Ich werde ihnen einen meiner damit erfahrendsten Ärzte vorbeischicken, der ihnen dazu Einzelheiten erklären kann.“
Kronstädter wurde in der gleichen Woche operiert. Auch er überstand die OP gut. Beim Entfernen der Klammern, es waren ca. 30, platzte die Wunde an einer Stelle auf. „Das ist immer so“, sagte sein Kollege der Professor, „wenn man einen Arzt behandelt, geht immer etwas schief.“ Er fand seine Bemerkung witzig. „Wir lassen das sekundär heilen, am Kopf geht das ruck-zuck.“ Im Kollegenkreis hatte er schon einmal gesagt: „ in Gesichtswunden kann man scheißen, die heilen trotzdem.“ Diese Bemerkung verkniff er sich jetzt natürlich.
Der histologische Befund war für die beiden Herren keine Überraschung. Die Nachbestrahlung wurde geplant und sollte beginnen, sobald Kronstädter sich entsprechend gut fühlte.
„Wenn ich ihnen einen Rat geben darf: machen sie einfach das, was sie schon immer einmal machen wollten, vielleicht eine Weltreise?“ der Chirurg wollte die vermeintlich düstere Zukunft durch einen positiven Aspekt aufhellen.
Das Dexamethason wurde schnell reduziert und nur noch die für die Bestrahlung notwendige Dosis gegeben. Die Bestrahlung wurde dann täglich durchgeführt und dauerte 4 Wochen.
Danach wurde auch der Rest des Cortisons ausgeschlichen. Das einzige Medikament war dann nur noch das Standartpräparat gegen kleine Anfälle, das sinnvollerweise doch weiter einzunehmen war.
Kurz nachdem Ippendorf aus dem OP gefahren worden war, schrie jemand: „der
hat weite Pupillen.“ Der Hirntod stand also unmittelbar bevor. Vorbereitet auf eine solche Situation wurde er sofort in den OP zurückgebracht und die Wunde wiedereröffnet. Erwartungsgemäß hatte er eine große Nachblutung erlitten, bei einer Hirnwunde, wie sie bei der Entfernung eines solchen großen Tumors entsteht, nichts ganz außergewöhnliches.
Etwas verzögert, aber immer noch innerhalb 24 Stunden wurde er wieder wach und hatte dann den üblichen Verlauf. An seinem Zustand hatte sich nichts geändert: nach wie vor hatte er einen vollständigen Ausfall des Gesichtsfeldes nach links.
Die Neuropathologen waren nicht begeistert. Fast das gesamte eingesandte Material war „nekrotisches“ d.h. abgestorbenes, totes Gewebe. Die übliche Imprägnierung mit allerlei Tumormarkern würde hier kein Ergebnis bringen. Der Fall war für die Wissenschaft wertlos.
Die große Tumornekrose in Verbindung mit dem wenigen vitalen Gewebe war natürlich für die Diagnose „Glioblastom“ völlig ausreichend.
Genau wie bei den anderen wurde Ippendorf nach 5 Tagen seine genaue Diagnose mitgeteilt und Nachbestrahlung und Chemotherapie angekündigt.
Dritter Teil
Der Doktor erweckte Claudias Mitleid: er sprach abgehackt und zuckte immer wieder einmal mit dem Kopf, er schien mehr gestresst zu sein, als sie selbst. Er erklärte ihr Sinn, Zweck und Ablauf einer Chemotherapie. Sie möge sich doch nach ihrer Bestrahlung in seiner Tumorsprechstunde melden. Die Bestrahlung wurde angefangen, als sie noch in stationärer Behandlung war und dann ambulant fortgesetzt. Dann ließ sie sich einen Termin in dieser Tumorsprechstunde geben, die einmal pro Woche stattfand. Sechs Zyklen sollten stattfinden, diese jeweils am Wochenende, sie käme freitags, bekäme eine Infusion und könne dann wieder nachhause gehen. Die Erhaltungsmedikation wären Kapseln, die ihr verordnet würden, was eigentlich nur die Klinik macht, da diese sehr teuer wären. Kannte sie das Präparat? Es war Temol, also genau das, was ihre Firma produziert und vertreibt und das sie neu eingeführt hatte. Offenbar hatte der Doktor davon keine Ahnung.
Die erste Infusion wurde wie vereinbart verabreicht. Das soll jetzt so wochenlang weitergehen? Claudia hatte so ihre Zweifel. Sie fand sich doch sehr eingeschränkt dadurch und außerdem war doch bekannt, dass der therapeutische Effekt der Temol Gabe gering war. Rein statistisch gesehen lebten die Patienten mit dieser Therapie durchschnittlich drei Wochen länger, als die unbehandelten, das stand sogar im Waschzettel, wie man den Beipackzettel von Medikamenten im Jargon nennt, man musste nur dem Link zur zugrunde gelegten Literatur folgen.
Sie rief in der Klinik an und sagte die noch anstehende Chemotherapie ab.
Da sie sich doch inzwischen relativ fit fühlte, plante sie wieder in ihren Job einzusteigen.
Sie ging in die Firma, um ihren Schreibtisch aufzuräumen, wo sich einiges angesammelt hatte. Wie es der Zufall so will, lief sie in die Arme des Vorstandsvorsitzenden. Der erkundigte sich sehr freundlich danach, wie es denn ihr so ginge und fragte sie dann, ob sie nicht noch mehr „Auszeit“ haben wolle. Das machte sie stutzig, das hörte sich an, als ob man sie nicht mehr haben wolle. Nach einer Sitzung eine Woche später, nahm sie der Präsident zur Seite und fragte unverblümt, ob sie nicht einfach in den Ruhestand gehen möchte, die Firma würde sich in finanzieller Hinsicht nicht kleinlich zeigen. Man wollte sie nicht mehr haben!
Ende der Karriere, das berufliche Aus Claudia war geschockt und zutiefst deprimiert.
Prof. Kronstädter sah auf seine Liste, fand sie vollständig abgehakt und drückte seinen Koffer zu. Das Taxi war schon bestellt. Seine Ehefrau suchte noch etwas, bis das Taxi vorfuhr würde sie hoffentlich fertig sein. Die Fahrt zum Flughafen dauerte ein halbe Stunde. Der Flug würde 10 Stunden dauern, er hatte sich dafür eingerichtet.
Als sie auf Mauritius gelandet waren, fühlten sie sich in dem milden Tropenklima sofort wohl. In der Ankunftshalle hingen Schilder, die da sagten, dass Drogenschmuggler mit der Todesstrafe rechnen müssten. Er fand diese Androhung doch sehr drastisch.
Die Hotelanlage lag im Süden der Insel und bot nicht nur einen malerischen Blick auf das Meer und eine große Bucht, sondern auch auf einen der wenigen großen Berge. Gleich außerhalb der Anlage war der Golfplatz. In einem Reihenbungalow waren sie untergebracht, gleich gegenüber der Anlegestelle der Hochseeangler. Dieses Revier sei weltberühmt erfuhr er später. Tatsächlich wurden immer wieder große Fische angelandet: Hammerhaie, Marlins,
mehrere hundert Kilo schwer. Die Fische wurden an der Waage hängend mit ihren stolzen Jägern fotografiert und dann in einer kleinen Fischfabrik weiter verarbeitet. Kronstädter bewunderte diese Tiere bzw. das was von ihnen übrig war, hatte aber sonst kein Verständnis für dieses Hobby. Seine Hauptbeschäftigung war das Schnorcheln in der Lagune und über den Korallen, wo man eine phantastische Welt entdecken konnte. Es gab neben einer sehr artenreichen und bunten Fischfauna viel anderes Getier, Kaurischnecken, die viel weibliches an sich haben und Dornenkronen, eine große und mit Giftstacheln bewehrte Seesternart z.B.
Mit einem Taxi erkundete er das Innere der Insel mit ihren vielen postvulkanischen Erscheinungen. Auf einem alten Segler, oder war es ein Nachbau? Jedenfalls war er vollständig aus Holz gebaut, machten sie einen wunderbaren Törn im Norden der Insel.
Sein Hobby, nämlich die Wissenschaft pflegte er weiter: das ist mit einem leistungsfähigen Laptop kein größeres Problem. Er ließ sich Arbeiten zur Durchsicht schicken, stöberte in der online Literatur und schrieb auch selbst das Eine und Andere.
Wieder zuhause machte er mehrer Städtereisen, vor allem in die neuen Bundesländer und gönnte sich auch ein verlängertes Wochenende in New York. Er wollte noch einmal Broadwayatmosphäre genießen, etwas in der Met sehen und auch diverse Museen besuchen.
Nachdem er die Bestrahlung gut überstanden hatte, nahm Ippendorf Senior seine Termine in der Tumorambulanz regelmäßig war. Die Chemotherapie hatte zwar Nebenwirkungen, er kam aber damit einigermaßen zurecht. Regelmäßig wurden neue Bilder vom Kopf gemacht, ohne dass sich ein neuer Befund abzeichnete. Es war jetzt ungefähr ein Jahr her, dass er operiert worden war. Ihm war das nicht so bewusst geworden, aber seiner Umgebung fiel auf, dass er langsamer geworden war, ja müde wirkte. Von dem vielen Cortison, das er inzwischen eingenommen hatte, hatte er an Gewicht zugelegt und ein aufgedunsenes Gesicht bekommen.
Die Medikation war die ganze Zeit fortgesetzt worden. Der Hausarzt wollte sie nicht ganz absetzten „sicherheitshalber“. Zurzeit nahm er nur 3 mg pro Tag von dem gängigen Medikament ein. Sein Zustand konnte nebenwirkungsbedingt sein. Ob der Hausarzt wusste, dass diese Dosis der dreifachen täglich notwendigen Hydrocortisonmenge entsprach, also toxisch war? Hatte er das bewusst in kauf genommen? Warum hat der Klinikarzt nicht reagiert? Die routinemäßig durchgeführte CT Kontrolle zeigte ein großes Tumorrezidiv. Da das Gesichtsfeld schon ausgefallen war, hatte der Tumor sonst keine neuen Symptome gemacht. Ippendorf wurde erneut operiert. Eine andere Behandlung kam nicht mehr in Frage.
Die Erholung von diesem Eingriff war schleppend. Fortan hielt er sich vorwiegend zuhause auf, seine Aktivitäten wurden immer weniger. Die Müdigkeit setzte wieder vermehrt ein, der Tumor war nach sechs Wochen schon wieder da und fast so groß, wie vor der letzten OP.
Als Herr Ippendorf Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme bekam und nicht mehr richtig schluckte, wurden die Medikamente abgesetzt. Drei Tage später war er tot. Anzeichen, dass der Tod für ihn quälend gewesen wäre, gab es nicht.
Prof. Kronstädter nahm eine neue Arbeit aus seiner Aktentasche. Sie war praktisch druckreif, es ging um die Schlusskorrektur. Er hatte etwas Mühe, das Papier aus der Tasche zu holen. Seine Frau kam zufällig herein und fragte, was mit seinem linken Arm sei. „Was soll damit sein?“ „Du lässt ihn so hängen.“ Ihm war nicht aufgefallen, dass sich eine Lähmung entwickelt hatte. Diese wurde immer offensichtlicher. Im CT sah man ein großes Tumorrezidiv. Es wurde nicht viel darüber gesprochen, es war alles besprochen. Er begann wieder mit der Dexamethason Einnahme. Nach drei Tagen war die Lähmung weg.
Er ordnete noch einmal alles, soweit es nicht schon geordnet war. Vier Wochen später setzte die Lähmung wieder ein und schritt jetzt unaufhaltsam fort. Er hatte zuletzt eine recht hohe Dosis eingenommen, offenbar war das Medikament jetzt unwirksam geworden Er setzte es ab. Wenige Tage später wurde er bewusstlos. Seine Frau saß am Bett und hielt ihm die Hand. Es war 13 Monate her, dass er die Krämpfe gehabt hatte.
Claudia Büser war mit einer stattlichen Summe abgefunden worden. Freuen konnte sie sich darüber nicht. Hatte jemand in der Firma gewusst, was mit ihr los war? Es sah ganz danach aus. Wenn man will, kommt man an jede Information.
Sie hatte noch versucht freiberuflich tätig zu werden, als Unternehmensberaterin. Erfolg war ihr nicht beschieden.
Sie hatte jetzt genügend Muße die Bequemlichkeiten ihrer Wohnung zu genießen.
Besonders schön fand sie es, sich in die Badewanne zu legen, bei Kerzenschein und ein Gläschen Sekt zu schlürfen.
Als man sie fand, war sie schon länger tot. Alles deutete darauf hin, dass sie in der Badewanne ertrunken war. Der Gerichtsmediziner kam zu dem Schluss, dass der Zustand der Auffindung, einiges war umgekippt, bzw. heruntergefallen und sie hatte Blut im Mund, weil sie sich auf die Zunge gebissen hatte, auf einen großen epileptischen Anfall hindeutete.
Die dadurch bedingte Bewusstlosigkeit habe zum Tode durch ertrinken geführt und für das Ganze ursächlich, sei ein Tumorrezidiv anzunehmen. Dies wurde durch die Obduktion bestätigt. Sie war 41 Jahre alt geworden.
Damit war das Komplott für diese drei zu Ende. Die Pharmaindustrie hatte erfolgreich ihre Strategie verbergen können und die Ärzte hatten funktioniert.
Unter Medizinern formiert sich Widerstand gegen die Preispolitik der Pharmakonzerne. In einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium kritisieren die Experten nach SPIEGEL-Informationen fragwürdige Krebsmittel, die jährlich bis zu 100.000 Euro pro Patient kosten.
Hamburg - Trotz des enorm hohen Preises sei der klinische Nutzen der fraglichen Arzneien nur geringfügig oder gar nicht zweifelsfrei belegt, kritisieren Onkologen und Gesundheitsökonomen in einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium. Mehr als ein Dutzend derartige Präparate - meist Antikörper oder Enzymhemmstoffe - werden schon heute verschrieben, bis zu 40 weitere könnten nach Expertenschätzung in den nächsten sechs Jahren Marktreife erlangen.
"Wir werden unser Gesundheitssystem nicht mehr finanzieren können, wenn wir das nicht in den Griff bekommen", sagte Wolf-Dieter Ludwig, Professor für Onkologie in Berlin und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dem SPIEGEL.
Schon jetzt würden 25 Prozent des Arzneimittelbudgets der Krankenkassen durch Spezialpräparate aufgebraucht, obwohl diese nur rund zwei Prozent der Verschreibungen ausmachen. "Die meisten dieser Medikamente haben nur eine geringe Wirkung. Deshalb halte ich die Preise schlicht für obszön", sagte Ludwig.
Gerd Glaeske, Gesundheitsökonom an der Universität Bremen, fordert eine neue Preispolitik: "Es kann nicht sein, dass die Hersteller die Preise für Medikamente diktieren, deren Nutzen noch gar nicht abschließend erwiesen ist."
Ludwig und Glaeske gehören zu den Verfassern des brisanten Gutachtens, das vorschlägt, den Preis eines neuen Medikaments künftig am Nutzen für den Patienten zu bemessen. Bisher können Pharmafirmen die Preise für innovative Produkte in Deutschland selbst festsetzen, die gesetzlichen Krankenkassen sind dann verpflichtet, diese zu zahlen.
Quelle: Spiegel online 15.05.2010
Sie rechnete sich damit die besten Chancen aus. Schon nach dem Abi schloss sie sich einer großen, als konservativ geltenden Partei an. Ein ehemaliger Bürgermeister, der in der Nachbarschaft wohnte, hatte ihr schon einige Türen geöffnet. Beredsamkeit verbunden mit den erworbenen Qualifikationen, dazu ein Schuss Vitamin B machten schnell aus der Lokalpolitikerin eine Kandidatin für die große Politik. Mit 30 wurde sie in das Amt einer parlamentarischen Staatssekretärin berufen. Natürlich hatte die geforderte Frauenquote dabei auch eine Rolle gespielt. Weil sie mit ihrem Minister nicht zurecht kam wechselte sie einmal das Ressort, in der gleichen Position.
Parteifreunde zu haben ist wichtig und gewählt werden ist auch ein Erfordernis. Unter wahrer Freundschaft verstand Frau Büser etwas Anderes. Nach einigen Jahren wechselte sie von der Politik in die Wirtschaft. Durch ihre Ämter hatte sie einige wichtige Leute kennen gelernt, die hinwiederum an Politikinsidern interessiert waren. Man hatte schon auf ihre Bewerbung gewartet. Sie trat eine Topposition in einem großen Pharmakonzern an.
Friedrich Kronstädter musste etwas länger an seiner Karriere arbeiten. Seine hohe Intelligenz stellte ihn über die anderen Schüler, er fand Schule langweilig. Eher philosophisch motiviert studierte er Humanmedizin und wurde Assistent an einer Universitätsklinik für Neurologie.
Als fleißiger Wissenschaftler gelang ihm auch rasch die Habilitation. Schon mit 40 wurde er Direktor einer neurologischen Universitätsklinik. Diese Position hielt er jetzt seit 20 Jahren.
Hans Ippendorf hatte Installateur gelernt. Nachdem er seinen Meisterbrief in der Tasche hatte eröffnete er ganz in der Nähe seines Elternhauses einen Betrieb: „Heizung, Sanitär und Klima“. Er war erfolgreich mit diesem Geschäft, fuhr einen großen, schweren, silberfarbenen Mercedes. Jetzt mit 60 wollte er endlich das Leben genießen und hatte das Glück, dass sein Sohn den Betrieb übernahm.
Diese drei, mit dieser unterschiedlichen Vita, verband eines: ihr Schicksal.
Chefetage
Üblicherweise fand einmal im Monat die Sitzung des Firmenmanagements statt. Büser hatte diesesmal vertretungsweise den Vorsitz übernommen.
„Meine Dame (Heiterkeit) und meine Herren, wie Sie wissen, sind wir heute hier, um die neue Unternehmensstrategie zu besprechen. Im letzten Jahr haben wir schwarze Zahlen geschrieben und auch einen guten Gewinn erzielt, aber das kann sich, auch im Hinblick auf die neueste Entwicklung in der Politik, rasch ändern. Wenn wir in die Verlustzone geraten, werden Köpfe rollen, ich rede nicht unbedingt von Ihren (Erleichterung), sondern wir werden dann im Personalbereich in den verschiedenen Werken uns verkleinern müssen. Mir graut schon jetzt vor der Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften. (beifälliges Nicken)
Als wichtiges Mitglied im Verband der forschenden Pharmaindustrie haben wir eine Machtposition, die es zu halten gilt.
In der Forschungsabteilung unseres Tochterunternehmens in den USA ist ein neues Medikament entwickelt worden. Es handelt sich um ein Mittel gegen Krebs. Bekanntlich sind wir bei diesen Medikamenten führend, dieser Sektor erscheint in unserer Bilanz am umsatzstärksten.
Es geht jetzt darum, dieses Medikament am Markt einzuführen. Als erstes erwarte ich eine entsprechende Medienkampagne, dann müssen alle Anwender geimpft werden, also intensive Arztkontakte einschließlich der Krankenhäuser und deren Apotheken. Ich bitte alle Abteilungsleiter entsprechend ihren Möglichkeiten aktiv zu werden. Das ganze muss außerdem wasserdicht abgesichert sein, nicht das wir nachher eine böse Überraschung erleben.
Einen Bericht hierüber erwarte ich in der nächsten Sitzung.“
Das Meeting setzte sich dann mit verschiedenen anderen Tagungsordnungspunkten fort.
Klinik
Einmal in der Woche war Chefvisite. Der Professor ging dann mit den Oberärzten und den jeweils zuständigen Assistenzärzten über alle Station seines Hauses, um die Patienten zu sehen. Das war schon immer so. Im Fachjargon nennt man diese Versammlung von weißen Kitteln „fluor albus“. Das Ritual war, dass der Assistent den Patienten vorstellte, also seine Symptome aufzählte oder gleich die Diagnose nannte. Hatte der Professor Zweifel, überzeugte er sich persönlich von den Befunden, lag der Assistent falsch, bekam er eine entsprechende Rückmeldung. Zur Not griff der Oberarzt helfend ein.
„Wir haben beim Patienten im MRT ein Neo gesehen und werden das morgen in der Konferenz mit den Kollegen von nebenan besprechen.“ Das hieß im Klartext: der Patient hat Krebs, er sollte operiert werden und die Neurochirurgen sollen ihn rasch übernehmen.
Die Uhr ging auf 17.00 h, Kronstädter drängte zur Eile, er hatte noch einige Telefonate zu führen, außerdem musste er zur Klinikkonferenz. Da würden ihn nicht nur einige ungeliebte Kollegen erwarten, sondern auch der Kaufmännische Direktor mit seiner ewigen Nörgelei.
Auf den Samstag hatte er einen Vorstellungstermin gelegt. Auf die freigewordene Oberarztstelle hatte sich ein Dozent beworben, der schon einige Meriten vorzuweisen hatte, da musste er sich etwas Zeit nehmen.
Nächste Woche musste er die Japanreise antreten. Er war Ehrenmitglied in der dortigen Neurologischen Gesellschaft und zu einem Vortrag zu seinem Spezialthema ALS eingeladen.
Den Vortrag hatte er zwar schon einige male gehalten, die Ergebnisse zweier neuer Arbeiten mussten aber noch eingearbeitet werden, mit den entsprechenden Dias. Das wollte er am Sonntag machen.
Büro
Der Senior Ippendorf ging jeden Tag nach dem Frühstück ins Büro. Dort sah er sich die aktuellen Aufträge an und sah nach, wie weit die schriftlichen Angebote gediehen waren.
Der Werkstattwagen war um diese Zeit meist schon unterwegs. Sein Sohn hatte den Betrieb ins Internet gestellt, worauf die Auftragslage sich deutlich verbesserte. Seine „Runden“ sah der Sohn mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits schätzte er durchaus einen guten Tipp des Alten, bei Bedarf, andererseits war er jetzt der Chef. Er fühlte sich überwacht.
Hans Ippendorf plante für dieses Jahr einen etwas aufwändigeren Urlaub. Eine Kreuzfahrt im Mittelmeer mit dem neuesten AIDA Schiff. Alternativ dachte er an eine Reise in die Emirate, wo die gleiche Reederei tätig war. Warum sollte er sich jetzt nicht einmal etwas Luxus leisten.
Der Beginn
Claudia Büser hatte eine anstrengende Woche hinter sich. Das Wochenende stand bevor, das erste seit längerer Zeit ohne Termine. Sie würde es sich in ihrem gemütlichen Heim endlich einmal bequem machen.
Am Samstag wachte sie mit grässlichen Kopfschmerzen auf. Sie fühlte sich, als habe sie jemand aufs Auge geschlagen und sie hätte jetzt ein „Veilchen“. Im Spiegel sah man nichts, außer, dass sie etwas blass war. Ihr wurde übel. Sie nahm zwei Aspirin und legte sich wieder ins Bett.
Mit der Fernbedienung ließ sie die Rollläden herunter. Aus dem gemütlichen Wochenende wurde nichts. Da sie sich richtig krank fühlte, kontaktierte sie ihre Hausärztin, die ihr einen kurzfristigen Termin gab.
Die Ärztin war ursprünglich als Anästhesistin tätig gewesen, hatte sich aber dann niedergelassen, als es am Krankenhaus immer schwieriger wurde.
Sie ließ sich die Symptome schildern, hörte Herz und Lungen ab, und machte ein EKG nachdem sie den Blutdruck gemessen hatte.
„Wir sollten auch ein großes Labor machen, Sie waren schon längere Zeit nicht mehr hier, zum allround check.“
Vorerst diagnostizierte sie eine typische Migräne, wollte sich aber der Patientin gegenüber noch nicht festlegen, solange die Laborwerte noch nicht vorlagen.
„Ich verschreibe Ihnen erst einmal ein besser wirksames Schmerzmittel und würde Sie bitten, mich übermorgen anzurufen, damit wir das weitere Vorgehen besprechen.“
Die Laborbefunde waren normal. „Ich habe in den nächsten Tagen einige wichtige Termine, wenn ich die versäume, komme ich in große Schwierigkeiten. Haben Sie eine Ursache gefunden?“ fragte sie die Ärztin.
„Ich denke, dass sie einen Migräneanfall hatten.“ und „Zur Sicherheit können wir eine Kernspintomografie des Kopfes machen.“ rutschte es ihr heraus. Sie versprach sich von dieser Untersuchung nichts, aber die Patientin war eine wichtige Person, außerdem „P“ und sie wollte sich keinen Fehler leisten.
Die Patientin griff diese Idee sofort auf und meldete sich bei einem Radiologen, der mehrere dieser Geräte in der Stadt in Betrieb hatte an.
Zum Untersuchungstermin hatte sie keine Kopfschmerzen mehr, aber sie wollte endlich wissen, wie sie dran ist und konsequent bleiben.
Lästig fand sie, dass man ihr nach dem ersten Durchgang Kontrastmittel spritzte und einen zweiten machte. Wieder sagte die RMTA ihre Standartsätze, die die Patientin instruieren und auch beruhigen sollten. Viele bekamen Angst in der Röhre, erst recht, wenn es zu wummern anfing.
Das Messergebnis dieses „bildgebenden Verfahrens“ wird von einem der vielen Doktoren meist am Nachmittag an einem Monitor ausgewertet, wo er sich die große Menge der entstandenen Bilder ansieht und einen Befund diktiert.
In diesem Fall diktierte er seinen Bericht etwas vieldeutig und fühlte sich ausreichend sicher mit dem Schlusssatz. „dringende Vorstellung beim Neurochirurgen empfohlen.“
Frau Dr.Pommer, die Hausärztin, erschrak als sie den Befund las, den ihr der Radiologe gleich gefaxt hatte. „Was sage ich jetzt der Patientin?“, der Radiologe sprach von einer Metastase, schloss aber einen anderen Prozess nicht aus, auch keinen hirneigenen Tumor, der dann hoch bösartig sein würde. Sie bat die Patientin zur Befundbesprechung in die Praxis. Am liebsten hätte sie diesen ihr anhand der Bilder erklärt. Es gab aber keine Bilder, nur eine CD, auf der diese abgespeichert waren und mit der konnte sie nichts anfangen. Mit der Bild Interpretation wäre sie allerdings auch überfordert.
Sie riet der Patientin, doch einmal einen Spezialisten zu fragen, da unklar wäre, wie ernst man den Befund nehmen müsste, am besten jemanden, der sowohl etwas von den Bildern versteht, wie von der eventuell notwendigen Behandlung. Das wäre ein Neurochirurg. Der Chef an der hiesigen Uni-Klinik wäre wohl der richtige. Man höre, dass dieser eine menschliche Katastrophe sei, aber fachlich sei er eine anerkannte Kapazität.
Frau Brüser war irritiert, ein bösartiger Tumor? Die Kopfschmerzen hatte sie doch schon jahrelang, nur nicht so schlimm, wie neulich. Humbug. Außerdem wusste sie, dass Fehldiagnosen nicht selten sind. Bei einer Patientin hatte man einen MS Herd, also eine entzündliche Veränderung, im Hirn für einen bösartigen Tumor gehalten, sie war sogar deswegen daran operiert worden, wonach sich die Diagnose klärte. Eine Pharmareferentin war bei ihrer Literaturrecherche auf diesen Fall gestoßen.
Was auf dem Tisch ist, muss auch wieder vom Tisch. Sie vereinbarte einen Termin in der Privatsprechstunde. Die Sekretärin gab ihr einen in 4 Wochen und sagte, dass sie ein Chefarztstellvertreter sehen könne, wenn der ihr zu spät sei.
Die Hausärztin riet ihr, gleich in die Klinik zu gehen (sie wusste schon warum).
Sie solle die CD mitnehmen, mehr bräuchte sie nicht.
Zunächst musste sie einen Haufen Papier unterschreiben. Der außergewöhnlich hohe Steigerungssatz war ihr schon aufgefallen, den Rest hatte sie nicht so genau studiert.
Der Doktor war ein ganz gewöhnlicher Doktor. Auf seinem Namensschild stand zwar Oberarzt, er war aber anscheinend frei von Chefarztallüren. Er untersuchte sie, wobei sie über den einen oder anderen neurologischen Test zusammen lachten. Es sei alles o.k. sagte er.
Dann sah er sich die Bilder an und erklärte ihr, um welchen Befund es ging, welche Bedeutung das hat und welche Diagnosen in Frage kommen. Er erwähnte auch die Geschichte vom MS Herd, was sie tröstlich fand. Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung hatte der Arzt eigentlich keinen Zweifel, dass es sich um ein Glioblastom handelt, den bösartigsten Hirntumor, den man kennt. Das betonte er aber jetzt nicht und sagte ihr nur, dass es sich um einen Zufallsbefund handele. Ihre Beschwerden seien ein Migräneanfall gewesen. Zum MRT Befund nannte einige Prozentzahlen und unterstrich immer wieder, dass die richtige Diagnose nur über eine histologische Untersuchung zu stellen sei.
Sie solle doch einmal über eine Operation nachdenken, die nicht so schlimm sei, täglich würden solche Eingriffe hier im Haus durchgeführt. Von einer Verlaufbeobachtung riet er ab, da in ein paar Wochen der Befund sehr viel größer werden könne und dann alles noch viel schwieriger sei.
Er stelle ihr schon einmal ein Rezept über ein hochwirksames Cortisonpräparat aus, mit dem zugehörigen Einnahmeplan, sie solle aber die Einnahme erst starten, wenn sie operiert werden wolle und ein OP Termin feststünde.
Claudia Brüser konnte das alles nicht glauben. Sie rief ihre Schwester an und traf sich mit ihrer besten Freundin. Sonst hatte sie niemanden mit dem sie darüber sprechen konnte.
Beide zeigten sich betroffen und rieten, was sollten sie auch machen, zur Operation.
Sie suchte noch einmal ihre Hausärztin auf und berichtete, was man in der Klinik mit ihr besprochen habe. „Dann rate ich ihnen, die Operation schnellstens durchführen zu lassen.“
Sie musste erst einmal eine Nacht darüber schlafen.
Prof. Kronstädter saß an seinem Schreibtisch und ging das neueste Werk seines zweiten Oberarztes durch, das dieser, besser gesagt, sein Doktorand verfasst hatte.
Urplötzlich bemerkte er einen leichten Schwindel, dann fing seine linke Gesichtshälfte an zu zucken, er konnte das im spiegelnden Glas seines Familienfotos auf dem Tisch auch sehen, dann fing auch seine linke Hand an zu zucken. So plötzlich, wie der Spuk gekommen war, verschwand er auch wieder. Mein Gott, ein kleiner epileptischer Anfall, dachte er, als auch schon der zweite einsetzte.
Ihm war klar, dass sich hier nicht erstmals ein Alterswehwehchen bemerkbar machte. Ihm war klar, dass hier etwas Hirnorganisches ursächlich sein musste. Er wartete eine halbe Stunde ab, um sich zu ordnen. Dann rief er seinen ersten Oberarzt an, der auch der Meinung war, dass man umgehend bildgebend untersuchen sollte. Noch am Abend gegen 10:00 h, wenn die angemeldeten Untersuchungen durch sind und auch das meiste Personal nicht mehr im Haus ist, sollte eine Computertomografie gemacht werden, dann wäre man schon ein großes Stück weiter.
Die CT Untersuchung war in wenigen Minuten erledigt. Schon auf den Nativbildern sah man eine relativ große, hypodense Zone im rechten Schläfenlappen. Zur weiteren Klärung musste jetzt auch mit Kontrastmittel untersucht werden. Es stellte sich die typische Ringstruktur dar.
Die Diagnose lautete: Glioblastoma multiforme.
Kronstädter ging in seine Räume und legte sich hin.
Alle Termine mussten abgesagt werden. Seine Lebenserwartung betrug nur noch wenige Monate, dass wusste er, genügend Fälle dieser Art hatte er selbst erlebt.
Er begann sofort mit der Dexamethason Einnahme.
Auch dass er sich operieren lassen würde, war für ihn klar.
Der Meister freute sich schon auf die Kreuzfahrt, die Buchungsbestätigung war gerade gekommen. Schnell ging er noch einmal ins Büro. Auf dem Weg rammte er den Türrahmen. „Das fehlt mir gerade noch, dass ich mich jetzt verletze.“ Es war aber nichts sonst passiert.
Wenig später passierte ihm das Gleiche noch einmal. Beim Essen erzählte er davon seiner Frau. Sie sah ihn an und meinte: „Vielleicht ist etwas mit deinen Augen, du guckst auch so schief. Geh’ doch mal zum Augenarzt.“
Der Augenarzt sagte ihm, dass die Augen in Ordnung seinen. Er bräuchte auch keine neue Brille. Der Blick fiel ihm auch auf. „Wir sollten doch einmal das Gesichtsfeld vermessen.“
Es stellte sich heraus, dass das Gesichtsfeld nach einer Seite nahezu vollständig ausgefallen war. „Dieser Befund erklärt, warum sie den Türrahmen nicht gesehen haben. Die Ursache muss hinter den Augen liegen, im Kopf, vielleicht haben sie eine Durchblutungsstörung.
Sprechen sie doch mit ihrem Hausarzt, der sollte auch weitere Untersuchungen veranlassen.“
Das sagte er, weil er therapeutisch sowieso nichts machen konnte.
Der Hausarzt sah auf seine Karteikarte. Dann untersuchte er alles, was in seinen Rahmen passte und begründbar war. „Nach der Computertomografie sprechen wir weiter.“ Er wollte nicht gleich zur Kernspintomografie greifen, die dreimal teurer ist.
Im CT sah man einen großen Befund im rechten Hinterhauptslappen, der offenbar die dortigen Teile des Sehzentrums außer Funktion gesetzt hatte.
Der Radiologe, den die MTA gleich informiert hatte, rief den Hausarzt an und holte sich dessen Einverständnis, dass noch eine Kernspintomografie angeschlossen würde.
„Ich schicke Dir noch eine Überweisung.“ Er kannte Rudi vom Studium her.
Im MRT sah man jetzt die ganze Bescherung.
Ippendorf Senior wurde wenig später vom gleichen Arzt gesehen, der auch Frau Büser gesehen hatte. Die Diagnose war die gleiche. Der Ehefrau sagte er unter vier Augen, was er von der ganzen Sache hielt.
Zweiter Teil
Claudia Büser ging ins Aufnahmebüro und erledigte alle Formalitäten. Wohl oder übel hatte sie sich zu dem Eingriff entschlossen. Morgen sollte sie operiert werden. Der Professor würde es persönlich machen. Vorbild war ihr ein bekannter Politiker. War der nicht auch an einem Hirntumor operiert worden? Als dieser nach einigen Wochen wieder in TV Sendungen erschien, sah man äußerlich nichts. Er wirkte auch nicht verändert oder beeinträchtigt.
Die meisten Sorgen machte sie sich um ihre Haare. Ihr würde kein Haar gekrümmt, er meinte damit abgeschnitten, hatte ihr der Professor gesagt.
Als sie die Augen aufmachte, störte sie der Schein einer Taschenlampe. Sie wäre jetzt auf der Intensivstation, die OP wäre vorbei und alles gut, sagte die Schwester und prüfte die Pupillenreaktion weiter.
Etwas schlapp fühlte sie sich, aber sonst bemerkte sie keinerlei Einschränkungen.
Einige Tage später lief sie über die Station und fand, dass es vielen anderen doch schlechter ging als ihr.
Der histologische Befund kam nach fünf Tagen. Er war zwei Seiten lang. Der Professor überflog ihn und interessierte sich eigentlich nur für den letzten Satz: „ …... was mit einem Glioblastom vereinbar ist.“
Einer seiner Assistenten hatte mehrere Arbeiten über hirneigene Tumoren veröffentlicht. Er las den Bericht genauer. Das nach seiner Meinung pseudofachmännische Geschwafel missfiel ihm. Wichtig fand er, dass im Präparat auch Teile eines Oligodendroglioms gesehen und beschrieben wurden. Damit war der Tumor kein klassisches Glioblastom, sondern ein jetzt malignisierter, ehemals relativ gutartiger Hirntumor. Von diesen wusste man, dass sie eine längere Vorgeschichte und auch einen günstigeren Verlauf hatten.
In der Tumorkonferenz brachte er diesen Fall zur Sprache. Der Neuropathologe wiederholte seine schon schriftlich gemachten Äußerungen und fügte hinzu: „Sie haben ja Recht, aber die Vorschriften der WHO zwingen uns diesen Tumor als Glioblastom zu klassifizieren.“
Bei der Visite eröffnete der Professor ihr den Befund. „Wir müssen eine Nachbestrahlung planen und eine Chemotherapie anschließen. Ich werde ihnen einen meiner damit erfahrendsten Ärzte vorbeischicken, der ihnen dazu Einzelheiten erklären kann.“
Kronstädter wurde in der gleichen Woche operiert. Auch er überstand die OP gut. Beim Entfernen der Klammern, es waren ca. 30, platzte die Wunde an einer Stelle auf. „Das ist immer so“, sagte sein Kollege der Professor, „wenn man einen Arzt behandelt, geht immer etwas schief.“ Er fand seine Bemerkung witzig. „Wir lassen das sekundär heilen, am Kopf geht das ruck-zuck.“ Im Kollegenkreis hatte er schon einmal gesagt: „ in Gesichtswunden kann man scheißen, die heilen trotzdem.“ Diese Bemerkung verkniff er sich jetzt natürlich.
Der histologische Befund war für die beiden Herren keine Überraschung. Die Nachbestrahlung wurde geplant und sollte beginnen, sobald Kronstädter sich entsprechend gut fühlte.
„Wenn ich ihnen einen Rat geben darf: machen sie einfach das, was sie schon immer einmal machen wollten, vielleicht eine Weltreise?“ der Chirurg wollte die vermeintlich düstere Zukunft durch einen positiven Aspekt aufhellen.
Das Dexamethason wurde schnell reduziert und nur noch die für die Bestrahlung notwendige Dosis gegeben. Die Bestrahlung wurde dann täglich durchgeführt und dauerte 4 Wochen.
Danach wurde auch der Rest des Cortisons ausgeschlichen. Das einzige Medikament war dann nur noch das Standartpräparat gegen kleine Anfälle, das sinnvollerweise doch weiter einzunehmen war.
Kurz nachdem Ippendorf aus dem OP gefahren worden war, schrie jemand: „der
hat weite Pupillen.“ Der Hirntod stand also unmittelbar bevor. Vorbereitet auf eine solche Situation wurde er sofort in den OP zurückgebracht und die Wunde wiedereröffnet. Erwartungsgemäß hatte er eine große Nachblutung erlitten, bei einer Hirnwunde, wie sie bei der Entfernung eines solchen großen Tumors entsteht, nichts ganz außergewöhnliches.
Etwas verzögert, aber immer noch innerhalb 24 Stunden wurde er wieder wach und hatte dann den üblichen Verlauf. An seinem Zustand hatte sich nichts geändert: nach wie vor hatte er einen vollständigen Ausfall des Gesichtsfeldes nach links.
Die Neuropathologen waren nicht begeistert. Fast das gesamte eingesandte Material war „nekrotisches“ d.h. abgestorbenes, totes Gewebe. Die übliche Imprägnierung mit allerlei Tumormarkern würde hier kein Ergebnis bringen. Der Fall war für die Wissenschaft wertlos.
Die große Tumornekrose in Verbindung mit dem wenigen vitalen Gewebe war natürlich für die Diagnose „Glioblastom“ völlig ausreichend.
Genau wie bei den anderen wurde Ippendorf nach 5 Tagen seine genaue Diagnose mitgeteilt und Nachbestrahlung und Chemotherapie angekündigt.
Dritter Teil
Der Doktor erweckte Claudias Mitleid: er sprach abgehackt und zuckte immer wieder einmal mit dem Kopf, er schien mehr gestresst zu sein, als sie selbst. Er erklärte ihr Sinn, Zweck und Ablauf einer Chemotherapie. Sie möge sich doch nach ihrer Bestrahlung in seiner Tumorsprechstunde melden. Die Bestrahlung wurde angefangen, als sie noch in stationärer Behandlung war und dann ambulant fortgesetzt. Dann ließ sie sich einen Termin in dieser Tumorsprechstunde geben, die einmal pro Woche stattfand. Sechs Zyklen sollten stattfinden, diese jeweils am Wochenende, sie käme freitags, bekäme eine Infusion und könne dann wieder nachhause gehen. Die Erhaltungsmedikation wären Kapseln, die ihr verordnet würden, was eigentlich nur die Klinik macht, da diese sehr teuer wären. Kannte sie das Präparat? Es war Temol, also genau das, was ihre Firma produziert und vertreibt und das sie neu eingeführt hatte. Offenbar hatte der Doktor davon keine Ahnung.
Die erste Infusion wurde wie vereinbart verabreicht. Das soll jetzt so wochenlang weitergehen? Claudia hatte so ihre Zweifel. Sie fand sich doch sehr eingeschränkt dadurch und außerdem war doch bekannt, dass der therapeutische Effekt der Temol Gabe gering war. Rein statistisch gesehen lebten die Patienten mit dieser Therapie durchschnittlich drei Wochen länger, als die unbehandelten, das stand sogar im Waschzettel, wie man den Beipackzettel von Medikamenten im Jargon nennt, man musste nur dem Link zur zugrunde gelegten Literatur folgen.
Sie rief in der Klinik an und sagte die noch anstehende Chemotherapie ab.
Da sie sich doch inzwischen relativ fit fühlte, plante sie wieder in ihren Job einzusteigen.
Sie ging in die Firma, um ihren Schreibtisch aufzuräumen, wo sich einiges angesammelt hatte. Wie es der Zufall so will, lief sie in die Arme des Vorstandsvorsitzenden. Der erkundigte sich sehr freundlich danach, wie es denn ihr so ginge und fragte sie dann, ob sie nicht noch mehr „Auszeit“ haben wolle. Das machte sie stutzig, das hörte sich an, als ob man sie nicht mehr haben wolle. Nach einer Sitzung eine Woche später, nahm sie der Präsident zur Seite und fragte unverblümt, ob sie nicht einfach in den Ruhestand gehen möchte, die Firma würde sich in finanzieller Hinsicht nicht kleinlich zeigen. Man wollte sie nicht mehr haben!
Ende der Karriere, das berufliche Aus Claudia war geschockt und zutiefst deprimiert.
Prof. Kronstädter sah auf seine Liste, fand sie vollständig abgehakt und drückte seinen Koffer zu. Das Taxi war schon bestellt. Seine Ehefrau suchte noch etwas, bis das Taxi vorfuhr würde sie hoffentlich fertig sein. Die Fahrt zum Flughafen dauerte ein halbe Stunde. Der Flug würde 10 Stunden dauern, er hatte sich dafür eingerichtet.
Als sie auf Mauritius gelandet waren, fühlten sie sich in dem milden Tropenklima sofort wohl. In der Ankunftshalle hingen Schilder, die da sagten, dass Drogenschmuggler mit der Todesstrafe rechnen müssten. Er fand diese Androhung doch sehr drastisch.
Die Hotelanlage lag im Süden der Insel und bot nicht nur einen malerischen Blick auf das Meer und eine große Bucht, sondern auch auf einen der wenigen großen Berge. Gleich außerhalb der Anlage war der Golfplatz. In einem Reihenbungalow waren sie untergebracht, gleich gegenüber der Anlegestelle der Hochseeangler. Dieses Revier sei weltberühmt erfuhr er später. Tatsächlich wurden immer wieder große Fische angelandet: Hammerhaie, Marlins,
mehrere hundert Kilo schwer. Die Fische wurden an der Waage hängend mit ihren stolzen Jägern fotografiert und dann in einer kleinen Fischfabrik weiter verarbeitet. Kronstädter bewunderte diese Tiere bzw. das was von ihnen übrig war, hatte aber sonst kein Verständnis für dieses Hobby. Seine Hauptbeschäftigung war das Schnorcheln in der Lagune und über den Korallen, wo man eine phantastische Welt entdecken konnte. Es gab neben einer sehr artenreichen und bunten Fischfauna viel anderes Getier, Kaurischnecken, die viel weibliches an sich haben und Dornenkronen, eine große und mit Giftstacheln bewehrte Seesternart z.B.
Mit einem Taxi erkundete er das Innere der Insel mit ihren vielen postvulkanischen Erscheinungen. Auf einem alten Segler, oder war es ein Nachbau? Jedenfalls war er vollständig aus Holz gebaut, machten sie einen wunderbaren Törn im Norden der Insel.
Sein Hobby, nämlich die Wissenschaft pflegte er weiter: das ist mit einem leistungsfähigen Laptop kein größeres Problem. Er ließ sich Arbeiten zur Durchsicht schicken, stöberte in der online Literatur und schrieb auch selbst das Eine und Andere.
Wieder zuhause machte er mehrer Städtereisen, vor allem in die neuen Bundesländer und gönnte sich auch ein verlängertes Wochenende in New York. Er wollte noch einmal Broadwayatmosphäre genießen, etwas in der Met sehen und auch diverse Museen besuchen.
Nachdem er die Bestrahlung gut überstanden hatte, nahm Ippendorf Senior seine Termine in der Tumorambulanz regelmäßig war. Die Chemotherapie hatte zwar Nebenwirkungen, er kam aber damit einigermaßen zurecht. Regelmäßig wurden neue Bilder vom Kopf gemacht, ohne dass sich ein neuer Befund abzeichnete. Es war jetzt ungefähr ein Jahr her, dass er operiert worden war. Ihm war das nicht so bewusst geworden, aber seiner Umgebung fiel auf, dass er langsamer geworden war, ja müde wirkte. Von dem vielen Cortison, das er inzwischen eingenommen hatte, hatte er an Gewicht zugelegt und ein aufgedunsenes Gesicht bekommen.
Die Medikation war die ganze Zeit fortgesetzt worden. Der Hausarzt wollte sie nicht ganz absetzten „sicherheitshalber“. Zurzeit nahm er nur 3 mg pro Tag von dem gängigen Medikament ein. Sein Zustand konnte nebenwirkungsbedingt sein. Ob der Hausarzt wusste, dass diese Dosis der dreifachen täglich notwendigen Hydrocortisonmenge entsprach, also toxisch war? Hatte er das bewusst in kauf genommen? Warum hat der Klinikarzt nicht reagiert? Die routinemäßig durchgeführte CT Kontrolle zeigte ein großes Tumorrezidiv. Da das Gesichtsfeld schon ausgefallen war, hatte der Tumor sonst keine neuen Symptome gemacht. Ippendorf wurde erneut operiert. Eine andere Behandlung kam nicht mehr in Frage.
Die Erholung von diesem Eingriff war schleppend. Fortan hielt er sich vorwiegend zuhause auf, seine Aktivitäten wurden immer weniger. Die Müdigkeit setzte wieder vermehrt ein, der Tumor war nach sechs Wochen schon wieder da und fast so groß, wie vor der letzten OP.
Als Herr Ippendorf Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme bekam und nicht mehr richtig schluckte, wurden die Medikamente abgesetzt. Drei Tage später war er tot. Anzeichen, dass der Tod für ihn quälend gewesen wäre, gab es nicht.
Prof. Kronstädter nahm eine neue Arbeit aus seiner Aktentasche. Sie war praktisch druckreif, es ging um die Schlusskorrektur. Er hatte etwas Mühe, das Papier aus der Tasche zu holen. Seine Frau kam zufällig herein und fragte, was mit seinem linken Arm sei. „Was soll damit sein?“ „Du lässt ihn so hängen.“ Ihm war nicht aufgefallen, dass sich eine Lähmung entwickelt hatte. Diese wurde immer offensichtlicher. Im CT sah man ein großes Tumorrezidiv. Es wurde nicht viel darüber gesprochen, es war alles besprochen. Er begann wieder mit der Dexamethason Einnahme. Nach drei Tagen war die Lähmung weg.
Er ordnete noch einmal alles, soweit es nicht schon geordnet war. Vier Wochen später setzte die Lähmung wieder ein und schritt jetzt unaufhaltsam fort. Er hatte zuletzt eine recht hohe Dosis eingenommen, offenbar war das Medikament jetzt unwirksam geworden Er setzte es ab. Wenige Tage später wurde er bewusstlos. Seine Frau saß am Bett und hielt ihm die Hand. Es war 13 Monate her, dass er die Krämpfe gehabt hatte.
Claudia Büser war mit einer stattlichen Summe abgefunden worden. Freuen konnte sie sich darüber nicht. Hatte jemand in der Firma gewusst, was mit ihr los war? Es sah ganz danach aus. Wenn man will, kommt man an jede Information.
Sie hatte noch versucht freiberuflich tätig zu werden, als Unternehmensberaterin. Erfolg war ihr nicht beschieden.
Sie hatte jetzt genügend Muße die Bequemlichkeiten ihrer Wohnung zu genießen.
Besonders schön fand sie es, sich in die Badewanne zu legen, bei Kerzenschein und ein Gläschen Sekt zu schlürfen.
Als man sie fand, war sie schon länger tot. Alles deutete darauf hin, dass sie in der Badewanne ertrunken war. Der Gerichtsmediziner kam zu dem Schluss, dass der Zustand der Auffindung, einiges war umgekippt, bzw. heruntergefallen und sie hatte Blut im Mund, weil sie sich auf die Zunge gebissen hatte, auf einen großen epileptischen Anfall hindeutete.
Die dadurch bedingte Bewusstlosigkeit habe zum Tode durch ertrinken geführt und für das Ganze ursächlich, sei ein Tumorrezidiv anzunehmen. Dies wurde durch die Obduktion bestätigt. Sie war 41 Jahre alt geworden.
Damit war das Komplott für diese drei zu Ende. Die Pharmaindustrie hatte erfolgreich ihre Strategie verbergen können und die Ärzte hatten funktioniert.
Unter Medizinern formiert sich Widerstand gegen die Preispolitik der Pharmakonzerne. In einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium kritisieren die Experten nach SPIEGEL-Informationen fragwürdige Krebsmittel, die jährlich bis zu 100.000 Euro pro Patient kosten.
Hamburg - Trotz des enorm hohen Preises sei der klinische Nutzen der fraglichen Arzneien nur geringfügig oder gar nicht zweifelsfrei belegt, kritisieren Onkologen und Gesundheitsökonomen in einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium. Mehr als ein Dutzend derartige Präparate - meist Antikörper oder Enzymhemmstoffe - werden schon heute verschrieben, bis zu 40 weitere könnten nach Expertenschätzung in den nächsten sechs Jahren Marktreife erlangen.
"Wir werden unser Gesundheitssystem nicht mehr finanzieren können, wenn wir das nicht in den Griff bekommen", sagte Wolf-Dieter Ludwig, Professor für Onkologie in Berlin und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dem SPIEGEL.
Schon jetzt würden 25 Prozent des Arzneimittelbudgets der Krankenkassen durch Spezialpräparate aufgebraucht, obwohl diese nur rund zwei Prozent der Verschreibungen ausmachen. "Die meisten dieser Medikamente haben nur eine geringe Wirkung. Deshalb halte ich die Preise schlicht für obszön", sagte Ludwig.
Gerd Glaeske, Gesundheitsökonom an der Universität Bremen, fordert eine neue Preispolitik: "Es kann nicht sein, dass die Hersteller die Preise für Medikamente diktieren, deren Nutzen noch gar nicht abschließend erwiesen ist."
Ludwig und Glaeske gehören zu den Verfassern des brisanten Gutachtens, das vorschlägt, den Preis eines neuen Medikaments künftig am Nutzen für den Patienten zu bemessen. Bisher können Pharmafirmen die Preise für innovative Produkte in Deutschland selbst festsetzen, die gesetzlichen Krankenkassen sind dann verpflichtet, diese zu zahlen.
Quelle: Spiegel online 15.05.2010
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